Ende des Afghanistan-Einsatzes 2014 "Der Abzug kommt zu früh und zu spät"
Noch gut zwei Jahre, dann sollen die afghanischen Sicherheitskräfte das Kommando von den ISAF-Truppen übernehmen. Doch Afghanistan ist noch nicht bereit für den Abzug, sagt Politologe Thomas Ruttig im Gespräch mit tagesschau.de - auch, weil der Westen in den vergangenen Jahren viel falsch gemacht hat.
tagesschau.de: Herr Ruttig, ist die Sicherheitslage in Afghanistan schlechter als bislang öffentlich dargestellt?
Thomas Ruttig: Ja. Die Lage ist heute sehr viel schlechter als in den ersten Jahren des internationalen Engagements in Afghanistan. 2010 und 2011 waren die bisherigen Spitzen, was Taliban-Aktivitäten betrifft.
tagesschau.de: Wird die schlechte Sicherheitslage von der Bundesregierung bewusst verschwiegen - oder zumindest weniger schlecht dargestellt, als sie tatsächlich ist?
Ruttig: Ich glaube, dass es im Interesse der Regierungen der ISAF-Truppenstellerländer ist, die Situation als stabiler darzustellen, als sie ist. Andernfalls würde die Entscheidung, bis Ende 2014 den Großteil der Kampftruppe aus Afghanistan abzuziehen, nicht mehr gerechtfertigt erscheinen.
Seit langem wird von vielen Beobachtern - gerade auch afghanischen - kritisiert, dass der Abzug 2014 so früh mitgeteilt wurde. Damit wurden den Taliban signalisiert: Ihr müsst nur bis 2014 durchhalten. Das hat wiederum bei vielen Afghanen zu größerer Angst geführt.
Hinzu kommt: Ursprünglich war der Abzug für Ende 2014 nur unter der Bedingung geplant, dass die tatsächliche Situation im Land dann stabil ist. Davon haben die Verantwortlichen nach und nach Abstand genommen – was an innenpolitischen Diskussionen in den USA und bei uns liegt.
tagesschau.de: Kommt der Abzug zu früh?
Ruttig: Der Abzug kommt zu früh und zu spät zugleich. Er kommt zu früh, weil das, was sich nicht nur die truppenentsendenden Länder vorgenommen hatten, sondern sich vor allem die afghanische Bevölkerung gewünscht hatte, noch nicht erfüllt ist: Mehr Stabilität, mehr Selbstbestimmung, mehr Demokratie, sowie ein sicheres Lebensumfeld. Deshalb kommt er zu früh.
Er kommt aber auch zu spät. Seit 2006 hat sich die Art und Weise des internationalen Einsatzes in Afghanistan verändert: Er konzentriert sich seither auf das Militärische. Sämtliche zivilen Aspekte - der Aufbau staatlicher Institutionen oder die Demokratisierung - wurden völlig in den Hintergrund gedrängt. Diese Umdefinierung eines umfassenden Stabilisierungseinsatzes mit all seinen politischen Komponenten war der große Fehler.
Deshalb kommt der Abzug möglicherweise zu spät. Nach 2006 ist nur noch gekämpft worden. Und dann hat man gemerkt, dass man die Taliban nicht schlagen kann.
"Wir haben zu viel gewollt und zu wenig gefragt"
tagesschau.de: Sehen Sie überhaupt eine Chance, dass in den nächsten Jahren in der afghanischen Gesellschaft innerer Frieden hergestellt werden kann?
Ruttig: Afghanistan hat solche Zeiten schon erlebt, man bräuchte dafür jetzt aber mehr Zeit.
Unsere Regierungen haben zu viel für Afghanistan gewollt und die Afghanen zu wenig gefragt, was sie selbst wollen. Sie haben immer so getan, als könne man demokratische Strukturen innerhalb von zehn Jahren aufbauen. Das geht aber nicht, demokratische Prozesse dauern länger.
Man kann den Beginn dieser Prozesse aber in die richtige Richtung lenken. Das ist aber nicht passiert.
"Die Bevölkerung fühlt sich zunehmend unsicher"
tagesschau.de: Woran liegt das?
Ruttig: Die ISAF-Länder haben sich in Afghanistan mit den falschen Leuten verbündet. Damit meine ich nicht Präsident Karsai, aber dessen Verbündete. Darunter sind Warlords, die nachweislich Kriegsverbrechen begangen haben, die in den Neunzigerjahren mit ihrer Misswirtschaft und ihrer teilweise sehr repressiven Herrschaft dafür gesorgt haben, dass die Taliban sich lange als Rettungsfront der Bevölkerung inszenieren konnten. Das sind zutiefst anti-demokratische Kräfte. Und mit Anti-Demokraten kann man keine Demokratie aufbauen.
tagesschau.de: Fühlt sich die afghanische Bevölkerung sicher in ihrem Land?
Ruttig: Nein, die Bevölkerung fühlt sich zunehmend unsicher. Die Intensität der Kämpfe hat sich mit den Jahren gesteigert und nicht abgenommen. Das untergräbt auch Errungenschaften im zivilen Bereich: Menschen schicken ihre Kinder nicht zur Schule, weil der Schulweg zu gefährlich ist, und die Kranken nicht in Krankenhäuser, weil sie sich unsicher fühlen. Sie gehen nicht wählen, aus Angst vor Anschlägen.
Bis 2014 und darüber hinaus müssen unsere Regierungen weiter helfen, Afghanistan zu stabilisieren. Dabei müssen endlich zivile Aspekte in den Vordergrund gestellt werden, und zwar nicht nur rhetorisch.
"Der Westen darf Afghanistan nicht fallenlassen"
tagesschau.de: Wenn nach 2014 viel weniger westliche Soldaten im Land sind, mit welchen Effekten rechnen sie im zivilen Bereich?
Ruttig: Auch, wenn es viel am NATO-Einsatz zu kritisieren gibt - weniger westliche Soldaten im Land sind ein Stabilisierungsfaktor weniger. Die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung hat vor den Warlords und auch vor den eigenen Streitkräften mehr Angst als vor den westlichen Truppen, weil es da weniger Kontrolle gibt.
Die Soldaten sind aber nicht der einzige Faktor, wichtig ist das Gesamtengagement. Unsere Regierungen haben zugesagt, Afghanistan nach 2014 nicht fallenzulassen. Das sollten sie auch unbedingt halten – auch wenn Entwicklungspolitik und Förderung politischer Institutionen sowie der Zivilgesellschaft viel Geld kosten.
tagesschau.de: Wird Afghanistan den Truppenabzug überstehen und sich langfristig stabilisieren?
Ruttig: Das ist zwar reine Spekulation, aber ich bin nicht besonders optimistisch. Die afghanischen Sicherheitskräfte und die politischen Institutionen sind zu schwach. Es ist zwar noch Zeit etwas zu tun, um aber die Hauptprobleme identifizieren zu können, müssen unsere Regierungen die Situation in Afghanistan endlich realistisch darstellen - und nicht den Leuten schöngefärbte Berichte vorsetzen.
Das Gespräch führte Anna-Mareike Krause, tagesschau.de