Flucht übers Mittelmeer "Das müsste jeden Europäer beschämen"
Dass Flüchtlinge panische Angst haben, nach Libyen zurück zu müssen, darf niemanden überraschen, sagt Experte Knaus im tagesschau.de-Interview. Zwar kämen kaum noch Flüchtlinge übers Mittelmeer. Doch der Preis dafür sei hoch.
tagesschau.de: Diese Woche hatten schiffbrüchige Migranten offenbar ein Handelsschiff gekapert, das sie zuvor aus Seenot gerettet hatte. Sie wollten nicht zurück nach Libyen gebracht werden. Was sagt das über die Situation der Flüchtlinge dort?
Gerald Knaus: Es gab in der Vergangenheit schon ähnliche Situationen. Letztes Jahr im November weigerten sich Geflüchtete vor Misrata an Land zu gehen und wurden dann mit Waffengewalt dazu gezwungen. Gerettete haben panische Angst, nach Libyen zurückzukommen. Das darf niemanden überraschen. Wir wissen von zahlreichen Beobachtern und Diplomaten, dass diese Menschen in Lager eingesperrt und misshandelt, versklavt, vergewaltigt und ermordet werden. Ein UN-Bericht aus dem vergangenen Dezember liest sich wie eine Beschreibung aus Dantes Inferno.
tagesschau.de: Gerade erst hat die EU beschlossen, die Operation "Sophia" auszusetzen - zumindest auf dem Wasser. Die Aktivitäten der Schleuserbanden sollen nur noch aus der Luft beobachtet werden. Werden jetzt wieder mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken?
Knaus: Seit dem Sommer 2018 hat "Sophia" kaum noch Menschen gerettet: Die Zahl ist von Tausenden, 2016 sogar Zehntausenden im Jahr, auf etwa Hundert im Halbjahr gefallen. Ein Grund ist, dass die libysche Küstenwache die meisten Boote abfängt. Ein zweiter, dass weniger Flüchtlinge losfahren. Aber der wichtigste Grund war, dass die Schiffe der EU nicht mehr in den Gebieten waren, die von Schlauchbooten erreicht werden können. So ergab die Mission keinen Sinn mehr. Aus diesem Grund hatte sich ja auch Deutschland bereits aus dem Einsatz zurückgezogen.
Der italienische Innenminister Matteo Salvini wollte "Sophia" ja schon länger beenden und stattdessen auf Härte und Kooperation mit Libyen setzen. Wenn sich europäische Länder zusammentun wollen um weiterhin Menschen zu retten, müssten sie es mit einem anderen Mandat tun. Und sie bräuchten einen Hafen, in den Gerettete gebracht werden könnten. Wenn nicht in Italien, dann in Malta oder auf Korsika. Denn eine gemeinsame Politik der EU kann es im zentralen Mittelmeer gegen den Willen Italiens nicht geben, und Salvini hat an der Seenotrettung kein Interesse.
"Last der Seenotrettung bei Handelsschiffen"
tagesschau.de: Welche Konsequenzen befürchten Sie jetzt?
Knaus: Es gibt kaum noch Seenotretter vor Ort, außer einer kleinen Zahl privater NGOs, deren Arbeit von Italien seit 2017 behindert wird. Auch deswegen ist die Gefahr, bei der Flucht über das Mittelmeer zu ertrinken, für jene die es heute noch wagen höher als je zuvor. Allerdings erfüllen die privaten Seenotretter eine wichtige Funktion. Sie sorgen dafür, dass das Thema und die unerträglichen Zustände im Bewusstsein der europäischen Öffentlichkeit bleiben.
Andererseits können private Boote eine fehlende staatliche Politik Europas nicht ersetzen. So bleibt die Seenotrettung zunehmend an Handelsschiffen wie im aktuellen Fall der "Elhiblu 1" hängen. Diese sind rechtlich dazu verpflichtet zu helfen. Andererseits: Wenn diese sich alleingelassen fühlen, weil sie beispielsweise keinen Hafen finden, wo sie Gerettete hinbringen könnten, werden manche in Zukunft ihre Pflicht nicht erfüllen, den Blick abwenden und die Hilferufe ignorieren. Auch das haben wir in der Geschichte schon erlebt.
"Die wirkliche Frage ist moralisch und politisch"
tagesschau.de: Funktioniert diese Politik der Abschreckung, wie Italien aber auch die EU sie verfolgen überhaupt? Hält das Menschen wirklich davon ab, sich auf den Weg zu machen?
Knaus: Viele Menschenrechtsorganisationen sagen, dass Abschreckung nicht funktionieren kann, da Menschen, die Fluchtgründe haben, sich immer auf den Weg machen werden. Doch die Erfahrung zeigt, dass dies nicht stimmt. Im zentralen Mittelmeer sind die Zahlen Ankommender seit Mitte 2017 dramatisch zurückgegangen. Die wirkliche Frage ist moralisch und politisch. Welcher Methoden dürfen sich Demokratien bedienen, um das Ziel der Abschreckung zu erreichen? Man legt ja auch keine Landminen an der EU-Grenze zur Türkei, um Flüchtlinge fernzuhalten.
Doch auf libysche Milizen zu setzen, die sich die Uniform der Küstenwache anziehen, und Gerettete der Folter zuführen ist moralisch kaum besser. Die EU und Länder mit Einfluss wie Italien unterstützen die libyschen Institutionen derzeit ohne im Gegenzug sicherzustellen, dass diejenigen, die zurückgebracht werden, menschenwürdig behandelt werden. Das ergibt eine Politik, die jeden Europäer beschämen müsste. Das gleiche gilt für die von Matteo Salvini vorangetriebene Politik, Rettungsboote zu behindern und das Ertrinken hunderter Menschen in Kauf zu nehmen. So geschehen im Juni 2018, seinem ersten Monat im Amt.
"Migranten in Libyen aus dieser Hölle herausholen"
tagesschau.de: Das heißt, die Menschen bleiben tatsächlich in ihren Herkunftsländern in Afrika, statt sich auf das Mittelmeer zu wagen?
Knaus: Man muss differenzieren. Im Rekordjahr 2016 kamen die Menschen zum überwiegenden Teil aus Westafrika, aus Tunesien und Algerien und die meisten von ihnen hatten keinen Anspruch auf Schutz in Europa. Viele machen sich heute tatsächlich nicht mehr auf den Weg, weil die Chance, in Europa anzukommen geringer ist. Und es gibt andere Länder, wie Eritrea, aus denen die Menschen nach wie vor fliehen und sie haben Anspruch auf Asyl.
tagesschau.de: Wie müsste Europa reagieren?
Knaus: Die europäische Politik müsste sehr klar sagen: Wir retten Menschen, wir bringen sie nach Malta oder Korsika, und wir sind dann in der Lage, diejenigen, die keinen Schutz brauchen, nach schnellen Asylverfahren in ihre Länder zurückzuschicken. Diesen Ländern müsste man dafür dann legale Migration anbieten. Und es müsste alles getan werden, um jenen, die in Libyen festsitzen, zu helfen aus dieser Hölle herauszukommen.
Aber es darf auch nicht so sein wie 2016, als eine Rekordzahl nach Italien kam und Tausende ertranken. Diejenigen, die keine Aussicht auf Asyl haben, darf die EU gar nicht über die Sahara nach Libyen locken. Wir könnten Wege finden, das Sterben und Leiden zu reduzieren und trotzdem die Grenze zu kontrollieren. Doch wollen das die Europäer? Das ist heute die wichtigste Frage.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.