Tschechien 150.000 Grundstücke - und keine Eigentümer?
In tschechischen Grundbüchern klaffen große Datenlücken: Von mehr als 150.000 Liegenschaften und Immobilien sind die Eigentümer unbekannt. Weil das die Gemeinden lähmt, will die Regierung möglichst viele aufspüren.
Der Name "Mariä Schmerz" erscheint unfreiwillig passend für den Zustand der kleinen Grabkapelle im tschechischen Kanice. Die Decke ist halb eingestürzt, ein provisorisches Dach auf einem Holzgerüst soll das Gebäude vor der Witterung schützen. 1862 ließ ein ungarischer Baron die Kapelle im neogotischen Stil für seine verstorbenen Schwestern errichten. Die Gemeindeverwaltung des 200-Seelen-Ortes nahe der Grenze zu Bayern will sie gern sanieren.
Doch das ist gar nicht so einfach, denn dafür müsste der rechtmäßige Eigentümer bekannt sein. Im Grundbuch wird ein längst verstorbener Nachkomme des Barons als Erbe aufgeführt. Wer nach ihm einen Anspruch auf die Kapelle hatte, ist unklar. Und so bleibt die Restaurierung des neugotischen Gebäudes bisher ein frommer Wunsch der Gemeinde.
Ellenlange Exceltabelle
Diese Situation ist kein Einzelfall. Bei etwa 150.000 Liegenschaften und Immobilien in Tschechien fehlen Daten zum Eigentümer. Darunter sind unter anderem mehr als 3.500 Gebäude und 194 Quadratkilometer Ackerland - eine Fläche ungefähr halb so groß wie Bremen. Das tschechische Amt für die Vertretung des Staates in Vermögensangelegenheiten listet die Immobilien.
Michaela Tesařová, Sprecherin der Behörde, sitzt vor einer scheinbar nicht endenden Excel-Tabelle. Seit 2014 seien so schon mehr als 56.000 Eigentümer gefunden worden, erzählt sie. Das Amt stelle auch selber Nachforschungen an und kontaktiere mögliche Besitzer.
Michaela Tesařová sagt, mehr als 56.000 Eigentümer seien schon aufgespürt worden.
Kommunen stehen vor Problemen
Die Behörde hat ein Interesse daran, noch möglichst viele weitere Menschen ausfindig zu machen, die einen Anspruch auf die Grundstücke und Gebäude haben. Denn die unbekannten Eigentümer bereiten den Gemeinden Probleme. "Bei Bauarbeiten wie dem Verlegen von Wasserleitungen stoßen die Behörden immer wieder auf Grundstücke mit unbekanntem Besitzer. Sie brauchen die Zustimmung des Eigentümers, wenn sie weiter bauen wollen. Das blockiert die Entwicklung der Gemeinden", sagt Tesařová.
Diese Besitzverhältnisse haben oft in den Wirren der tschechischen Geschichte ihren Ursprung. Nach den Verbrechen des sogenannten Dritten Reichs wurden in den Nachkriegsjahren Millionen Deutsche aus der Tschechoslowakei vertrieben. Neue Eigentümer wurden von den Behörden oft nicht ins Grundbuch eingetragen.
Die zweite Ursache ist mit der Jahreszahl 1993 verbunden. Damals trennten sich Tschechien und die Slowakei. Zwischen beiden Ländern wurde eine Grenze gezogen und viele Grundstücke wurden damit geteilt. Manche der neu entstandenen Grundstücksteile können inzwischen keinem Eigentümer mehr zugeordnet werden. "Die Mehrheit der Immobilien mit unbekanntem Besitzer liegt deshalb im Grenzgebiet", sagt Tesařová.
Frist für Rückmeldung bis Ende 2023
In diesem Grundstücksdschungel will Tschechien nun Ordnung schaffen. Grundstücke, bei denen kein Besitzer ermittelt werden kann, sollen an den Staat fallen. So sieht es ein 2014 beschlossenes Gesetz vor. Die zehnjährige Übergangsfrist, in der Besitzer oder Erben ihre Ansprüche anmelden können, läuft Ende 2023 ab. Wenn sich nicht ein großer Teil der Eigentümer bis dahin findet, würde es sich um die größte Verstaatlichung seit der Enteignung von Grundbesitzern in der Zeit des Kommunismus handeln.
Deshalb laufen nun in der tschechischen Vermögensbehörde die Telefone heiß, sagt Tesařová: "Viele Menschen melden sich und erzählen uns, sie hätten den Namen eines Verwandten in der Liste gefunden." In so einem Fall muss dann bei der zuständigen Gemeinde ein Erbschaftsverfahren eröffnet werden, bei dem das Anrecht auf das Grundstück geprüft wird.
Im Fall der Kapelle in Kanice hat sich bisher kein rechtmäßiger Eigentumsnachfolger des ungarischen Barons gefunden. Deshalb wird sie voraussichtlich 2024 an den Staat fallen. Der könnte sie der Gemeinde zum Kauf anbieten. Wenn sie dann im Besitz der Kommune ist, könnten die lang erwarteten Restaurierungsarbeiten beginnen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erließ der Präsident der damaligen Tschechoslowakei, Edvard Beneš, eine Reihe von Dekreten, die unter anderem die Vertreibung und Enteignung von mehr als 2 Millionen Sudetendeutschen zur Folge hatten. Ihre Häuser und Grundstücke wurden Tschechen und Slowaken zugeteilt, aber diese nicht immer als Eigentümer in die Grundbücher eingetragen - somit sind heute viele Eigentumsverhältnisse nicht aktenkundig. Da sich an der durch die Beneš-Dekrete geschaffenen Rechtslage jedoch bis heute nichts geändert hat, ist die staatliche Suche nach Eigentümern nicht gleichbedeutend damit, dass Vertriebene ihren einstigen Besitz im heutigen Tschechien zurückerhalten.