Krise in Nordafrika "Tunesien, das ist vorbei"
Tunesien galt lange als aufstrebendes Land - heute kämpft der Maghreb-Staat mit mehreren Krisen. Viele Menschen wollen deshalb nur noch weg. In der EU betrachtet man die Lage mit Sorge.
"Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass wir eines Tages für Mehl, Zucker oder Öl Schlange stehen müssen." Diese Einschätzung eines Mannes auf den Straßen der Stadt Sidi Bouzid steht stellvertretend für das, was viele Tunesier denken. Lebensmittel werden schon länger rationiert. Tunesien muss etwa 60 bis 70 Prozent seines Weizenbedarfs einführen. Schon Ende 2021 konnte die Regierung das bestellte Getreide nicht bezahlen, die EU half aus.
Mit Ausbruch des Krieges in der Ukraine stiegen die Preise noch einmal. Vor allem junge Menschen sind häufig arbeitslos und sehen keine Perspektive: "Ich habe einen Sohn, der mir jetzt sagt, er wolle mit dem Boot rüber. Hab ich das Geld, um ihm die Fahrt zu finanzieren? Wenn ich es hätte, dann würde ich es tun."
Am Ende bleibt oft nur die Flucht
Tunesien gilt vielen Menschen in Europa heute noch als aufstrebende Demokratie. Als sich im Dezember 2010 der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi wegen seiner wirtschaftlichen Lage und Polizeiwillkür aus Verzweiflung selbst verbrannte, nahm von hier aus der Arabische Frühling seinen Lauf. Madjeddine Badri war damals noch ein Kind, heute ist er selbst Gemüsehändler in der Hafenstadt Sfax. Schon zwei Mal versuchte er, nach Europa zu gelangen. Heimlich, über das Mittelmeer.
"Es ist alles eine Frage des Geldes", erzählt er. "Wenn ich das hätte, würde ich gerne ins Ausland gehen. Aber am liebsten auf eine reguläre, organisierte Art und Weise." Noch mal so ein Risiko eingehen, möchte er jedoch nicht. "Meine Mutter hat damals geweint und das Haus geputzt, weil sie dachte, die Leute würden vorbeikommen, um zu kondolieren. Sie dachte, ich wäre tot, denn mein Telefon war zweieinhalb Tage ausgestellt." Er wolle nicht, dass sie das noch mal erleben müsse, sagt Badri.
Nach der Schule geht es nicht weiter
Tunesien hat mit vielen Krisen zu kämpfen. Die Schuldenlast schränkt den Handlungsspielraum des Staates ein. Der Tourismus brach ein. Erst wegen mehrerer terroristischer Angriffe, dann aufgrund der Pandemie. Eine Mischung, die zu immer mehr Flucht führt: Mehr als 18.000 Menschen erreichten im vergangenen Jahr nach Angaben des Tunesischen Forums für ökonomische und soziale Rechte von Tunesien aus die italienische Küste - so viele wie noch nie.
Kein Wunder, meint die Jura-Studentin Racha: "Tunesien, das ist vorbei. Ich liebe mein Land, wir alle tun das. Aber es tötet die Hoffnung, die Ambitionen seiner Jugend. Sobald man die Schule abgeschlossen hat, mit Anfang Zwanzig weiß man nicht mehr, was man machen soll."
Von oben befeuerter Rassismus
Mindestens genauso schlecht, wenn nicht gar noch schlechter, geht es den Geflüchteten und Migranten aus anderen Ländern Afrikas, die in Tunesien gestrandet sind. Sie finden keine reguläre Arbeit und erleben häufig Rassismus - befördert durch den Präsidenten höchstpersönlich.
Im Februar verbreitete Kais Saied selbst rassistische Verschwörungstheorien. Er behauptete, "ein kriminelles Komplott" sei im Gange, "um die demografische Zusammensetzung Tunesiens zu verändern". "Horden von illegalen Einwanderern" seien verantwortlich für "Gewalt, Verbrechen und inakzeptable Handlungen". Menschen dunkler Hautfarbe wurden daraufhin angefeindet und tätlich angegriffen. Der malische Student Abramane Doumbia erzählt, er sei nicht mehr rausgegangen, nicht mehr zur Schule, er sei zu Hause eingesperrt gewesen.
Migranten aus Subsahara-Afrika halten eine Mahnwache vor dem UNHCR-Flüchtlingskommissariat und zeigen Schilder mit den Aufschriften "We need help" und "Tunisia is not safe".
Die EU verschließt die Augen
Im März organisierten deshalb Staaten wie Mali, Guinea oder die Elfenbeinküste Rückflüge für ihre Staatsbürger aus Tunis. Auch Doumbia trat den Flug in seine Heimat an. Wegen der rassistischen Äußerungen setzte die Weltbank zuletzt Verhandlungen zu finanziellen Hilfen aus. Das jedoch dürfte die ohnehin brenzlige Lage noch einmal befeuern. Und in der Europäischen Union? Dort fürchtet man sich vor vielen neuen Migranten aus Tunesien.
Die politische Analystin Chaima Bouhlel beschreibt im Radiosender Diwan FM die Situation als traurig, weil die Tunesier in der Debatte nicht vorkämen.
Der Grund für die Sorgen der Europäer um die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation ist, dass die Leute nicht zu ihnen kommen sollen. Dass die Tunesier Hunger leiden, dass sie kein Geld haben, dass das Wasser knapp, ihr Gesundheits- und Bildungssystem kaputt ist, all das stört niemanden. Was stört ist, dass es Europa Probleme bereitet.
Aus eigener Kraft scheint Tunesien diese Probleme nicht lösen zu können. Zumindest trauen es die Tunesier ihren Politikern nicht zu. Bei den Parlamentswahlen beteiligten sich sowohl im ersten Durchgang als auch in der folgenden Stichwahl nur elf Prozent der Wahlberechtigten.