Russische Offensive in der Region Charkiw "Es ist unheimlich"
Noch immer berichtet das ukrainische Militär von heftigen Kämpfen im russisch-ukrainischen Grenzgebiet in der Region Charkiw. Von der jüngsten russischen Offensive im Osten der Ukraine ist auch der Ort Wowtschansk betroffen.
Lichterloh brennen die Wohnhäuser in Wowtschansk - dem 17.000-Einwohner-Ort nördlich von Charkiw im Osten der Ukraine. Seit Freitag greifen russische Truppen Wowtschansk an, haben die russisch-ukrainische Grenze überschritten und laut Analysten der unabhängigen ukrainischen Onlineseite "Deep State" mittlerweile sechs Dörfer in der Grenzregion eingenommen.
"Diese zwei Tage und Nächte waren schrecklich. Möge Gott uns beschützen. Man legt sich hin und fragt sich, ob man jetzt getötet wird oder in einer Stunde", sagt Walentyna Hrewnowa gegenüber Journalisten der Nachrichtenagentur AP. Die 75-Jährige will trotz der Angriffe mit Bomben und Drohnen in Wowtschanks bleiben. "Es ist unheimlich, aber man kann nichts machen. Ich hoffe, dass die Russen es nicht hierher schaffen."
"Bleiben Sie am Leben", sagt ihre Nachbarin, als sie das Haus verlässt. Sie lässt sich von der ukrainischen Polizei in Sicherheit bringen.
Bewohner schleppen Möbel aus einem brennenden Haus in Wowtschansk: Seit Freitag wird der Ort angegriffen.
Die Lage im russisch-ukrainischen Grenzgebiet spitzt sich nach Einschätzung der Analysten von "Deep State" zu. Russland schaffe immer mehr Kräfte in das Gebiet und zwinge die Ukraine so, eigene Truppen in die Region zu verlegen, erklärt der ukrainische Militäranalyst Oleksandr Musienko.
"Es ist eine Tatsache, dass die ukrainischen Streitkräfte höchstwahrscheinlich die Truppen in der Region Donezk umverteilen werden", sagt er. Es sei auch möglich, "dass sie sich sogar aus der Donezk-Region zurückziehen müssen, wenn die Situation im Norden und Nordosten eskaliert und sich verschärft."
Karte der Ukraine, schraffiert: von Russland besetzte Gebiete
Kalkül der russischen Angreifer
Das scheint nach Ansicht vieler Beobachter das Kalkül der russischen Truppen zu sein. Die russische Offensive kommt dabei nicht unerwartet. In den vergangenen Wochen hatte Russland immer mehr Truppen im Grenzgebiet zusammengezogen. Die Ukraine hatte die Offensive jedoch zu einem späteren Zeitpunkt erwartet.
Russland nutzt offenbar die Schwäche der ukrainischen Truppen aus, die seit Monaten unter großem Personal- und Munitionsmangel leiden. Unter Druck ist die ukrainische Armee aber nicht nur im Nordosten des Landes, sagt Präsident Wolodymyr Selenskyj: "Die Lage in der Region Donezk bleibt besonders angespannt, vor allem in Richtung Pokrowsk. Dort finden täglich mehr als 30 Kampfhandlungen statt. Die Lage ist extrem schwierig. Natürlich achten wir auch auf alle anderen Richtungen unserer Verteidigungsoperation."
Mehr als 4.000 Menschen aus Charkiw in Sicherheit gebracht
Aus der umkämpften Region Charkiw haben die ukrainischen Behörden nach eigenen Angaben mehr als 4.000 Menschen in Sicherheit gebracht. Eine von ihnen ist die 82-jährige Tetiana Wasyliwna aus Wowtschansk. Sie wird nach Charkiw gebracht, der zweitgrößten Stadt der Ukraine.
"Raketen oder Bomben sind in fünf oder sechs Häuser auf einmal eingeschlagen, aber ich bin unverletzt geblieben", sagt sie. "Mein Haus stand in Flammen und mein Mann lag unter den Trümmern und hat nicht reagiert. Ich werde jetzt nach Charkiw gebracht. Ich habe keinen Pass mehr. Ich habe nichts."
Der ukrainische Präsident kritisierte nach den schweren Angriffen die sich immer wieder verzögernden Waffenlieferungen aus dem Westen. Was wirklich helfe, seien Waffenlieferungen, die tatsächlich in die Ukraine gelangten - nicht nur deren Ankündigungen, sagte Selenskyj in einer Videobotschaft.