US-Wahl 2024
Urteil zur Immunität "Supreme Court hat Trump freie Hand gegeben"
Zwei Tage nach dem Urteil des Obersten US-Gerichts zur Immunität von Ex-Präsident Trump meinen Beobachter: Die Entscheidung wird die amerikanische Demokratie verändern. Von einem Dammbruch spricht US-Experte Finzsch - und sieht politische Motive.
tagesschau.de: Der Oberste Gerichtshof hat festgehalten, dass der US-Präsident nicht über dem Gesetz steht, aber für zentrale, von der Verfassung vorgeschriebene Aufgaben nicht angeklagt werden kann. Er hat das mit der Gewaltenteilung begründet. Wie stichhaltig ist in Ihren Augen diese Begründung?
Norbert Finzsch: 2020 hat der gleiche Supreme Court entschieden, dass es keine präsidentielle Immunität gibt, und zwar in dem Verfahren, in dem es um die Freigabe der Papiere geht, die Trump in Florida in seinem Klo eingelagert hatte. Insofern stellt dieses Urteil eine vollkommene Zurücknahme eines alten Urteils dar, das erst vor vier Jahren ergangen ist. Das ist bemerkenswert. Die Begründung, die jetzt geliefert worden ist, ist eine flagrante Verletzung der amerikanischen Verfassung.
Norbert Finzsch ist emeritierter Professor der Geschichte und lehrte bis 2016 an der Universität Köln. Er hat zahlreiche Bücher zur Geschichte der USA publiziert und war mehrfach Fellow an der Universität Berkeley. Seit 2020 ist er Professor für Psychiatriewissenschaft an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm "Abjekte Körper: Zur Kulturgeschichte der Monstrositäten" (2024).
Rückkehr eines königlichen Prinzips
tagesschau.de: Wo sehen Sie diesen flagranten Verstoß?
Finzsch: In diesem Urteil kommt das Prinzip zum Einsatz, dass der König nicht falsch handeln kann. Das ist eine alte Diskussion aus dem englischen Verfassungsrecht, dass der König wegen Handlungen, die er begeht, nicht vor Gericht landen kann. In der Amerikanischen Revolution ist das Prinzip abgeschafft worden. Der Oberste Gerichtshof führt es jetzt durch die Hintertür wieder ein.
Keine Amtsenthebungsverfahren mehr?
tagesschau.de: Der Oberste Gerichtshof argumentiert, dass ein Präsident handlungsunfähig sei, wenn er immer unter der Androhung einer gerichtlichen Verfolgung seiner Tätigkeiten stehe. Was ist an dem Argument dran?
Finzsch: An dem Argument ist nichts dran. Denn solange der Präsident im Amt ist, unterliegt er ja auch der Möglichkeit eines Amtsenthebungsverfahrens. Dazu muss festgestellt werden, dass er das Gesetz verletzt hat. Das heißt, ein Amtsenthebungsverfahren kann nur eingeleitet werden, wenn vorher festgestellt worden ist, dass der Präsident das Recht verletzt hat. Insofern würde diese Entscheidung im Prinzip ein Amtsenthebungsverfahren unmöglich machen.
Das Problem des "Originalismus"
tagesschau.de: Interpretationen von Verfassungen ändern sich. Muss das, was zur Zeit der Amerikanischen Revolution galt, heute möglicherweise durch die geänderten Zeitläufte anders gesehen werden? Muss nicht jede Verfassung auch aus ihrer Zeit heraus interpretiert werden?
Finzsch: Wenn die konservative Mehrheit im Gericht diesen Standpunkt teilen würde, wäre diese Entscheidung nicht zustande gekommen. Die Mehrheit des amerikanischen Obersten Verfassungsgerichts urteilt nach dem Prinzip der Wortwörtlichkeit. Das heißt, sie nehmen die Verfassung wortwörtlich und verlangen, dass Entscheidungen der Gerichte im Sinne der Verfassungsväter aus der Amerikanischen Revolution getroffen werden.
Das Prinzip des Originalismus, das hier angelegt wird, schützt die Verfassung vor Anpassung an die Zeitläufte. Das ist ein riesiges Problem. Es ist schwer, mit einem solchen Supreme Court die Verfassung oder die Interpretation der Verfassung weiterzuentwickeln. Denn es wird immer argumentiert, dass etwas so nicht in der Verfassung stehe. Bestes Beispiel dafür ist der des Second Amendment und das Recht, Waffen zu tragen.
"Veränderung erklärt sich aus politischen Gesichtspunkten"
tagesschau.de: Im Grunde genommen hat der Supreme Court mit diesem Urteil also gegen seine zuletzt verfolgte Linie verstoßen. Wie erklären Sie sich denn diesen Widerspruch?
Finzsch: Zum einen hat sich die Besetzung des Gerichts geändert. An der alten Entscheidung von 2020 war noch die progressive Richterin Ruth Bader Ginsburg beteiligt. Die wurde nach ihrem Tod ersetzt durch Amy Barrett. Damit wurde die konservative Mehrheit am Supreme Court ausgebaut.
Wenn das Gericht an dieser Stelle anders entschieden hätte, hätte Trump möglicherweise nicht zur Wahl antreten können. Deshalb spielt hier eine große Rolle, dass die konservativen Richter den ehemaligen Präsidenten unterstützen. Die Veränderung in der Haltung des Gerichts gegenüber 2020 erklärt sich aus politischen Gesichtspunkten.
tagesschau.de: Kann man sagen, dass der Supreme Court vor allem Trump geschützt hat?
Finzsch: Das kann man ganz klar sagen. Der Supreme Court hat Trump geschützt. Das sieht man ja auch an den abweichenden Voten der drei von den Demokraten ernannten Richterinnen.
"Hier hat ein Dammbruch stattgefunden"
tagesschau.de: Eine von ihnen, Sonia Sotomayor hat gesagt, dass diese Art von Immunität wie eine Art geladene Waffe sei, die dem Präsidenten in die Hand gegeben werde und ihm ermögliche, eigene Interessen über die des Landes zu stellen, und dass die langfristigen Folgen erheblich sind. Teilen Sie diese Einschätzung?
Finzsch: Das sehe ich ganz genauso. Hier hat ein Dammbruch stattgefunden. Der Supreme Court hat im Prinzip Trump freie Hand gegeben. Sollte er wiedergewählt werden, kann er im Amt Rechtsbrüche begehen, ohne zu befürchten, dass er dafür belangt wird.
tagesschau.de: Aber bleibt nicht doch noch ein Interpretationsraum? Ist alles, was ein Präsident tut, zwangsläufig mit seinem Amt verbunden?
Finzsch: Nein, das ist nicht der Fall. Aber die Trennlinie zwischen dem, was mit seinem Amt verbunden ist, und dem, was der Präsident privat tut, ist in diesem Urteil nicht definiert. Insofern ist diese Linie sehr durchlässig.
Trump kann immer argumentieren, dass zum Beispiel die Entfernung der Akten aus dem Weißen Haus und die Ablage in seinem Klo in Florida eine Amtshandlung gewesen sei. Das Gericht hat einfach versäumt, deutlich zu definieren, was zu den Amtshandlungen gehört und was das Privatvergnügen des Präsidenten ist.
tagesschau.de: Gilt das zum Beispiel auch für die Rede auf einer Demonstration wie am 6. Januar 21, unmittelbar vor dem Sturm auf das Kapitol?
Finzsch: Ja, das hat ja Trump auch in seinem Antrag beim Gericht so formuliert. Ich befürchte, dass wir hier eine Vorbereitung eines nicht nur konservativen, sondern auch autoritären Systems sehen.
Wie das Urteil auf andere Verfahren wirkt
tagesschau.de: Beeinflusst dieses Urteil möglicherweise auch Verfahren, die in Bundesstaaten laufen, auf die der Präsident zunächst nicht in dem Maße Einfluss hat, weil er seinen Justizminister nicht anweisen kann, diese einzustellen?
Finzsch: Das wirkt sich auch auf solche Verfahren aus, weil der Supreme Court die Normenkontrolle für alle US-Gerichte ausübt. Wenn er festlegt, dass ein Gesetz oder eine Handlung verfassungswidrig ist, dann muss dieses betreffende Gesetz nicht zurückgenommen werden, sondern ist automatisch unwirksam.
Dieses Urteil ist entstanden aus einem Gerichtsverfahren vor dem District of Columbia Circuit und hat damit bindende Wirkung für das Urteil des District of Columbia. Und es gibt retroaktiv eine Auswirkung dieses Urteils auf alle anderen untergeordneten Gerichte der Vereinigten Staaten. Es kann also auch das Verfahren gegen Trump wegen versuchter Wahlmanipulation in Georgia beeinflussen.
"Nicht abzusehen, dass sich in absehbarer Zeit daran etwas ändert"
tagesschau.de: Können Sie sich denn vorstellen, dass ein Gericht später dieses Urteil wieder zurücknimmt oder entscheidend abändert?
Finzsch: Das Urteil ist nicht in Stein gemeißelt, das sehen wir ja an der Abweichung zum Urteil von 2020. Aber schauen Sie sich die Riege der Richterinnen und Richter an. Der Älteste ist mit 76 Clarence Thomas, dann kommt mit 74 Jahren Samuel Alito. Die anderen konservativen Richter sind relativ jung, die sind alle so um die 50. Das heißt, diese konservative Mehrheit wird mindestens die kommenden 15 Jahre bestehen, wenn nicht irgendwas Überraschendes passiert. Deswegen ist nicht anzunehmen, dass sich daran etwas ändert.
Interessant ist, wodurch sich die konservative Mehrheit von früheren konservativ ausgerichteten Gerichten unterscheidet. Nahezu über zwei Jahrhunderte hinweg bestand die Mehrheit des Supreme Court aus Protestanten. Heute sind von den neun Richtern sieben Katholiken - in einer Bevölkerung, die zu 40 Prozent aus Protestanten besteht. Das ist bemerkenswert.
Hier hat es einen totalen Umschwung gegeben, nicht nur, was die politische Ausrichtung angeht, sondern auch, was die religiöse Orientierung der Richterinnen angeht. Das erklärt vieles - unter anderem die konservative Haltung in Fragen der Abtreibung. Der konservative Katholizismus in den USA ist auf dem Vormarsch. Das kann man am Supreme Court deutlich sehen.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de