US-Wahl 2024

Joe Biden und Kamala Harris
interview

Wahlkampfexperte zu Biden-Rücktritt "Die Chancen sind definitiv gestiegen"

Stand: 23.07.2024 19:11 Uhr

Noch ist es nicht zu spät für einen Neuanfang im Wahlkampf der US-Demokraten, sagt Julius van de Laar. Nach Ansicht des Kampagnenberaters bieten jetzt vor allem diejenigen, die weder Trump noch Biden wählen wollten, neues Wählerpotenzial.

tagesthemen: Es hatte sich zuletzt zwar angedeutet, aber wie sehr hat Sie der Kandidaturrückzug von US-Präsident Joe Biden überrascht?

Julius van de Laar: Ich glaube, es war nur eine Frage des Wann und nicht des Ob. Und dass es jetzt gekommen ist, mit 107 Tagen bis zur Präsidentschaftswahl, ist vielleicht auch die letzte Ausfahrt, die Joe Biden genommen hat, um einem neuen Kandidaten oder einer Kandidatin Kamala Harris noch genügend Strecke zu geben, um Fahrt aufzunehmen.

Zur Person
Julius van de Laar ist Kampagnen- und Strategieberater. Im US-Wahlkampf 2012 leitete er für Barack Obama den Bereich Wählermobilisierung im Schlüsselstaat Ohio. Heute berät er politische Organisationen, NGOs und Unternehmen in der Entwicklung von Kampagnen sowie deren Umsetzung.

"Chance für einen Neuanfang"

tagesthemen: Sind die Chancen für die US-Demokraten, den Kandidaten der US-Republikaner, Donald Trump, im November zu schlagen, nun gestiegen? Oder ist die Strecke vielleicht zu kurz?

Van de Laar: Ich glaube, die Chancen sind definitiv gestiegen. Die Umfragen, die ich mir noch in der letzten Woche angeschaut habe, vor allem in den Swing States - also im Norden, im Rust Belt, oder auch in den südlichen Staaten - da war Donald Trump in fast allen Umfragen deutlich vorne. Tendenz immer noch steigend.

Ich glaube, das ist jetzt die Chance für einen sogenannten Reset, also einen Neuanfang innerhalb der Demokratischen Partei. Nachdem wie gesagt festgesetzt wird, dass es Kamala Harris wird - oder möglicherweise ein neuer Kandidat oder eine neue Kandidatin noch den Hut in den Ring wirft.

Aber eine Zahl ist wirklich interessant: Das ist die sogenannte Zahl der "double haters", also die Doppelhasser - diejenigen, die weder Donald Trump haben wollten noch Joe Biden. Die waren laut Umfragen immer bei 18 oder 19 Prozent.

Und da genau liegt die Chance für einen neuen Kandidaten, oder eine Kandidatin Kamala Harris in dem Fall: Dass genau diese Wählerschicht aufgegriffen und als potenzielle Unterstützer konvertiert werden kann.

Was für Harris spricht

tagesthemen: Sollte es tatsächlich Kamala Harris werden, die gegen Trump antritt: Was spricht aus Ihrer Sicht für sie?

van de Laar: Mehrere Dinge. Das erste ist die Amtserfahrung. Natürlich hat sie jetzt schon dreieinhalb Jahre lang gedient im Weißen Haus als Vizepräsidentin. Sie war bei sämtlichen Entscheidungen dabei. Das zweite ist natürlich auch die Vernetzung innerhalb der Partei.

Was für sie spricht - jetzt auch in diesem Partei-internen Vorwahlkampf - ist, dass sie jeden kennt, dass sie die Macht der Vizepräsidentin hat und auch, dass sie die Unterstützung von Joe Biden hat.

Ein dritter Faktor, der natürlich auch noch helfen kann, ist, dass wahrscheinlich heute Abend die Kassen bei der Demokratischen Partei klingeln. Ich könnte mir vorstellen, dass heute Abend mit mehreren 100 Millionen US-Dollar ein neuer Spendenrekord aufgesetzt wird.

Was gegen Harris spricht

tagesthemen: Richtig in Erscheinung getreten ist Harris als Vizepräsidentin nicht so sehr in den vergangenen dreieinhalb Jahren. Was spricht gegen Kamala Harris?

van de Laar: Auch eine Reihe von Dingen. Sie ist im Endeffekt mit dem verheiratet, was Joe Biden getan hat. Und letzte Woche auf dem republikanischen Parteitag haben die Republikaner natürlich alles angekreidet, was nicht gut läuft.

Das Topthema war einmal mehr die Migration und vor allem die illegale Migration. Das war das Hauptthema von Kamala Harris. Sie haben sie immer wieder die "Migrations-Zarin" genannt - diejenige, die im Endeffekt für die offenen Grenzen verantwortlich ist.

Und ich gehe davon aus, dass jetzt auch schon republikanische Parteistrategen vor ihren Bildschirmen sitzen und genau diese TV-Werbespots schneiden: Kamala Harris als eine "Offene-Grenzen-Zarin" zu benennen und damit auch morgen in die Fernsehwellen reinzugehen.

"Wähler entscheiden sich immer später"

tagesthemen: Wie schwierig ist es eigentlich, weniger als vier Monate vor der Wahl eine ganz neue Kampagne auf die Beine zu stellen? Oder interessieren sich die Wählerinnen und Wähler in den USA sowieso erst wenige Wochen vor der Wahl dafür?

van de Laar: Wir sehen, dass sich Wählerinnen und Wähler immer später entscheiden. Die Anzahl der noch unentschlossenen Wähler ist höher als je zuvor. Das spricht auf jeden Fall dafür, dass Kamala Harris jetzt auch noch ausreichend Zeit hat.

Eine der großen Fragen ist: Wie organisiert man so einen Wahlkampf? Da hat Harris natürlich den Vorteil, dass die Kampagnenstruktur rund um Joe Biden schon besteht. Wie gut die ist - ich glaube, das muss man noch mal in Frage stellen. Ob die Biden-Kampagne und die Biden-Harris-Kampagne bisher wirklich geliefert hat, da würde ich ein großes Fragezeichen hinter machen.

Aber es gibt einen wesentlichen Aspekt - und das ist anders als bei uns, wo noch viele Plakate geklebt werden, die schon Wochen im Voraus vorbereitet werden müssen: Der amerikanische Wahlkampf ist weitestgehend digital.

Und dazu kommt auch: Es gibt eine Reihe von Unterstützerinnen und Unterstützer, die über eine große Reichweite verfügen. Ich stelle mir nur vor, Barack Obama mit seinen Millionen und Millionen von Followern kommt dazu. Natürlich auch George Clooney und all die Celebrities.

Ich glaube schon, dass da relativ schnell ein ordentlicher Medienblitz durchgeführt werden kann, um Kamala Harris nicht nur bekannt werden zu lassen, sondern auch, um ihre Stärken in den Vordergrund zu spielen.

Aber Donald Trump und die Republikaner schlafen natürlich auch nicht. Die haben heute schon angefangen, sich auf Kamala Harris einzuschießen. Und die werden natürlich auch alles tun, um Harris' Bilanz, ihre Vergangenheit in den Vordergrund zu stellen und die natürlich nicht positiv zu beleuchten.

"Insgeheim gehofft, dass Biden bleibt"

tagesthemen: Trump ließ ja auch gleich verlauten, Harris wäre noch einfacher zu schlagen als Biden. Freuen sich die Republikaner eher über diese Entwicklung? Oder hätten die lieber Biden behalten als Gegenkandidaten?

van de Laar: Das ist natürlich die Haltung nach draußen, dass Donald Trump sagt: Ich kann sowieso jeden schlagen. Ob jetzt Michelle Obama kommt oder irgendein Gouverneur, Senator oder Kamala Harris - das ist mir völlig gleichgültig.

Ich glaube aber schon: Insgeheim haben die sich natürlich alle gewünscht, dass Joe Biden bleibt. Das habe ich auch in jedem Gespräch mit Republikanern gehört. Die haben den kompletten Wahlkampf darauf ausgelegt: Donald Trumps Stärke versus die Schwäche von Joe Biden - das sollte eigentlich die komplette Wahlkampfbotschaft sein.

Und jetzt eine vermeintlich deutlich jüngere Kandidatin zu haben in Kamala Harris, vorausgesetzt, sie setzt sich in der Demokratischen Partei durch: Das verschiebt zumindest die Arithmetik dieses Wahlkampfs signifikant.

Das Gespräch führte Ingo Zamperoni für die tagesthemen. Die schriftliche Version des Interviews wurde leicht überarbeitet.