Europawahl 2024
Junge Europäer vor der Wahl "Der EU fehlt das Miteinander"
Im Chat mit Europas Jugend: Claudia Longo hat Anfang des Jahres Arbeit gefunden. Sie habe Glück gehabt, sagt sie. Denn viele ihrer Freunde suchen lange nach einem Job. Ihr Vertrauen in die EU ist eher gering - was sind ihre Hoffnungen und Ängste? Geht sie wählen? Tagesschau.de hat sie gefragt.
tagesschau.de: Freuen Sie sich auf die Wahl?
Longo: Ob ich mich darauf freue? Also natürlich fühle ich mich sehr europäisch und weiß, dass ich Teil einer sehr großen, organisierten Gemeinschaft bin. Vor allem während meines Auslandssemesters vor drei Jahren habe ich gemerkt, was Europa ausmacht.
tagesschau.de: Aber?
Longo: Ich bin halt als Italienerin genauso stolz auf mein Vaterland. Wie wir Italiener das alle sind. Daher fühle ich mich natürlich eher meinem Land zugehörig.
tagesschau.de: Gehen Sie denn im Mai wählen?
Longo: Klar. Zur Wahl gehe ich auf jeden Fall. Alleine weil ich die Hoffnung nicht verliere, dass Europa irgendwann doch zu einer Gemeinschaft wird...
tagesschau.de: ...praktisch gesehen ist sie das ja schon.
Longo: Das stimmt wohl. Aber ich glaube, dass die meisten Europäer die europäische Idee noch gar nicht verstanden haben. Für mich muss die EU eine Gemeinschaft sein, die mit einer klaren, deutlichen Stimme spricht. Die aus den verschiedenen, unterschiedlichen Erfahrungen und Geschichten der Mitgliedsstaaten profitiert. Ich wünsche mir einfach mehr Einheit, in der die verschiedenen kulturellen Aspekte weiter bestehen können, aber man auf politischer und ökonomischer Ebene eine deutliche, klare, gemeinsame Linie formuliert.
"Die EU braucht klare, gemeinsame Ziele"
tagesschau.de: Ihre Vorstellung klingt ein wenig utopisch.
Longo: Das weiß ich. Wünsche sind natürlich nicht immer realistisch, aber Ziele, auf die man hinarbeiten kann. Und ich weiß auch, dass diese Utopie auf kurz oder lang so nicht passieren wird. Denn weder ihr Deutschen, noch wir Italiener, noch die Schweden oder Spanier wollen auf ihre Autonomie in einzelnen Gebieten verzichten. Wohl auch ein Grund dafür, dass solch eine Krise, wie wir sie momentan erleben, erst entstehen kann.
tagesschau.de: Wie sieht die aktuelle Situation in Italien aus? Sie hatten Glück und konnten relativ schnell einen Job finden. Wie erleben Sie aber die Suche Ihrer Freunde?
Longo: Ich hatte tatsächlich Glück, dass die Agentur, in der ich nun arbeite, mich sofort wollte. Aber es ist eigentlich schwer, als Hochschulabsolvent eine Arbeit zu finden, die dem eigenen Anspruch genügt. Eben einen Job zu finden, bei dem man sagen kannt: "Dafür habe ich studiert." Der Arbeitsmarkt leidet bestimmt unter den Folgen der Krise. Alle Menschen dürfen aber nicht immer schnell die Schuld für die Krise verteilen, sondern müssen mehr auf sich vertrauen.
"Die Regierung sehen viele als Dieb"
tagesschau.de: Wem geben die Menschen denn die Schuld?
Longo: Der Regierung und der europäischen Bevölkerung. Der Regierung, weil viele sie als Dieb sehen. Der Bevölkerung, weil sie nicht ausreichend für eine Lösung kämpft. Und obwohl ich keine Wirtschaftswissenschaften studiert habe, frage ich mich bis heute, wie man eine europäische Gemeinschaftswährung einführen konnte, ohne eine gemeinsame, klare Wirtschaftsordnung einzuführen.
tagesschau.de: Sie klingen enttäuscht.
Longo: Wenn ich ehrlich bin, bin ich das auch. Als ich für ein Semester ins Ausland gegangen bin, habe ich gesehen, dass wir jungen Studenten sehr viel miteinander teilen. Dieselben Ideen und Vorstellungen. Wir haben in einem fremden Land gemeinsam Spaß gehabt und uns kulturell ausgetauscht und somit quasi Europa gewählt. Dieses Miteinander, das ich gespürt habe, sehe ich nicht, wenn ich nach Brüssel schaue. Irgendwann wird sich das hoffentlich aber ändern.
Das Interview führte Jan Koch per Chat für tagesschau.de