Europawahl 2024
Spitzenkandidaten der Linken Ein Duo gegen den Bedeutungsverlust
Das Linken-Spitzenduo Martin Schirdewan und Carola Rackete soll bei der EU-Wahl für ein Bündnis zwischen Partei und außerparlamentarischen Aktivisten stehen. Die Partei erhofft sich von der ungewöhnlichen Kombination eine Wende.
Politik war Martin Schirdewan in die Wiege gelegt. Sein Großvater Karl galt in den 1950er-Jahren als zweiter Mann hinter DDR-Staatschef Walter Ulbricht, bis er auf Reformen drängte und wegen zunehmender Kritik an Ulbricht aus seinen Parteiämtern gedrängt wurde. Zu NS-Zeiten hatte Karl Schirdewan zum Widerstand gehört und viele Jahre in Konzentrationslagern verbracht.
Es ist ein Familienerbe, das auch den Enkel prägte. Zum einen war da die Auseinandersetzung mit dem DDR-Sozialismus. Der junge Martin Schirdewan lebte einige Jahre bei seinen Großeltern und erzählt, er erinnere sich an intensive politische Diskussionen, denen er mit großem Interesse gefolgt habe.
Zum anderen sei ihm das antifaschistische Erbe sehr wichtig: "Ich bin überzeugter Antifaschist, und auch deshalb mache ich mir ziemlich große Sorgen in diesen Zeiten um unsere gesellschaftliche Entwicklung."
Gegen Waffenlieferungen - aber kein Pazifist
Der promovierte Politologe sieht sich als Antimilitarist, aber nicht als Pazifist. Trotzdem ist er gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, weil so der Krieg nicht zu beenden sei.
Skeptisch sieht er auch die immer lauteren Forderungen nach einer EU als Verteidigungsunion, weil sein Eindruck ist, dass sich die Debatte im Moment vor allem um Angriff, Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit drehe: "Ich glaube, dass eigentlich eine Verteidigungsfähigkeit darin besteht, dass man stärker den Wert auf Diplomatie, auf Konfliktlösung mit friedlichen Mitteln legt."
Der Co-Vorsitzende der deutschen Linken war in der vergangenen Legislaturperiode auch Co-Chef der Linksfraktion im EU-Parlament. Dort waren der Kampf gegen Kinder- und Altersarmut, für mehr Steuergerechtigkeit und einen europäischen Mindestlohn sowie die Auseinandersetzung mit den großen Internetkonzernen, wichtige Themen für den 48-Jährigen. Ebenso die sozial gerechte Umsetzung von Klima- und Naturschutz.
Der Begriff "Spitzenkandidat" kann verwirrend sein, denn er bedeutet im Kontext der Europawahlen zweierlei:
Einerseits steht er für die Listenersten der deutschen Parteien, die bei der Europawahl antreten. Entsprechend dieser Listen werden die Spitzenkandidaten bei ausreichender Stimmzahl als erste für ihre Partei ins EU-Parlament gewählt.
Andererseits steht der mittlerweile europaweit verwendete Begriff für jene Person, die von den europäischen Parteizusammenschlüssen im Europaparlament als Kandidat oder Kandidatin für den Chefposten der "EU-Regierung", den Präsidentenposten der Kommission, nominiert wurde.
Manche Europapolitikerinnen sind beides: Spitzenkandidatin ihrer deutschen Partei und für die Kommissionspräsidentschaft.
Martin Schirdewan hat sich große Ziele gesetzt, doch muss er auch gegen die Krise der Linken ankämpfen.
Vermögensabgabe - für mehr Klimaschutz
Es ist ein Thema, das sich auch die für die Linken kandidierende parteilose Carola Rackete auf die Fahne geschrieben hat. So wie Schirdewan ist auch sie in ihren Aussagen sehr klar und direkt.
So wolle sie für eine sozialökologische und gerechte Transformation "Superreiche" mit einer Vermögensabgabe belasten: "Reiche und Konzerne sind die Hauptverursacher der Klimakrise und müssen und können deswegen auch die meiste Verantwortung dafür tragen."
"Wissenschaftliche Aufklärung allein reicht nicht"
Aktivistin, Naturschützerin und Seenotretterin mit dem großem Kapitänspatent - Rackete hat einen weiten Weg von einer kleinen Gemeinde in Niedersachsen auf die Bühne der europäischen Politik zurückgelegt. Als Schülerin sei sie noch völlig unpolitisch gewesen und habe sich - auch mangels Alternativen auf dem Dorf - vor allem mit Computerspielen beschäftigt, erzählte sie in dem YouTube-Format "Jung & Naiv".
Nach der Schule entschied sie sich für ein Studium der Nautik und sagt, sie sei erst durch Auslandsaufenthalte politisiert worden. Vor allem die Arbeit auf dem Forschungseisbrecher Polarstern und die Gespräche mit den Wissenschaftlern hätten ihr Bewusstsein für die Klimakrise geweckt. Es ist der Beginn eines immer intensiver werdenden Einsatzes für Nicht-Regierungsorganisationen. Sie engagierte sich als Umweltaktivistin im Protest gegen die geplante Rodung des Hambacher und des Dannenröder Forstes und arbeitete für Greenpeace.
Während eines Studiums des Naturschutzmanagements ist Rackete 2016 erstmals auf Schiffen des Seenot-Rettungsvereins Sea Watch im Einsatz und wird zur freiwilligen Kapitänin mehrerer Schiffe. Als sie sich 2019 über ein Verbot der italienischen Regierung, den Hafen der Insel Lampedusa anzulaufen, hinwegsetzt und daraufhin für mehrere Tage in Haft genommen wird, macht sie 2019 internationale Schlagzeilen.
Als Kapitänin des Rettungsschiffs "Sea Watch 3" erlangte Carola Rackete 2019 europaweite Bekanntheit.
Versuch eines Brückenschlags
"Ich habe mit der Zeit immer mehr erkannt, dass es politische und gesellschaftliche Aktionen braucht, weil die wissenschaftliche Aufklärung allein nicht reicht", sagt sie zu ihrer Motivation. Mitglied einer Partei ist sie aber nicht und lässt sich dennoch 2023 von den Linken für eine Kandidatur für das Europaparlament gewinnen. Die Partei verspricht sich davon viel - sie sucht das Bündnis mit Aktivisten, sozialen Bewegungen der Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisationen auch, um ihren Niedergang zu stoppen.
Und Rackete? Sie wolle "auf keinen Fall Berufspolitikerin" werden, sagt sie der "Süddeutschen Zeitung". Ob sie länger im Europaparlament bleibe, wolle sie 2025 nach der Bundestagswahl entscheiden.
Aber erst einmal muss sie für das EU-Parlament gewählt werden. Dafür wären schon die schwachen 5,5 Prozent von 2019 ein Erfolg. Die Ausgangsposition sei schon mal besser gewesen, räumt auch Linken-Chef Schirdewan ein. Doch als ein von Grund auf optimistischer und zuversichtlicher Mensch glaube er, dass sich seine Partei aus der Krise herausarbeiten könne.