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Europäische Union Der schwierige Kampf für Rechtsstaatlichkeit

Stand: 20.05.2024 09:42 Uhr

Was kann die EU tun, wenn Mitglieder den Rechtsstaat aushöhlen? Ausgerechnet ihre schwächste Institution verteidigte die Werte der Union - und demonstrierte, welche Macht die Abgeordneten haben, wenn sie zusammen arbeiten.

Artikel 2 des EU-Vertrags schreibt fest, was Europa zusammenhält. Gleichheit, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stehen dabei ganz oben.

Diese Wertegemeinschaft ist keine leere Phrase, sondern ein Grundpfeiler der Union, wie auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beschwört: "Wir sind entschlossen, diese Werte zu verteidigen." Sie seien durch die Rechtsordnung garantiert und durch bindende Urteile des Europäischen Gerichtshofs gesichert.

Und wir achten darauf, dass sie eingehalten werden. Und zwar in jedem Mitgliedstaat unserer Union.

Parlament machte Druck

Trotzdem zögerte die Kommissionspräsidentin lange, gegen EU-Staaten vorzugehen, die massiv gegen die Rechtsstaatlichkeit verstießen. Polen und insbesondere Ungarn wurde seit langem vorgeworfen, unter anderem die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Medien abzuschaffen.

Es war das Parlament, das die Werte der Union konsequent verteidigte. Die eigentlich schwächste EU-Institution demonstrierte eindrucksvoll, welche Macht die Abgeordneten haben, wenn Konservative, Liberale, Grüne und Sozialdemokraten geschlossen agieren.

Am Ende drohten die Parlamentarier der Kommissionschefin sogar mit einer Untätigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof. Der Grünenparlamentarier Daniel Freund gehört zu den Hauptakteuren der fraktionsübergreifenden Aktionen: "Wir im Europäischen Parlament machen Druck mit sehr, sehr großen Mehrheiten, um den Rechtsstaat in der Europäischen Union zu schützen - und damit die Europäische Kommission endlich aktiv wird."

Gelder zurückbehalten

Der Druck zeigte Wirkung. Wegen massiver Rechtsstaatsverstöße hielt die Kommission bis zu 138 Milliarden Euro zurück, die aus dem regulären EU-Haushalt und aus dem Corona-Wiederaufbaufonds für Ungarn und Polen gedacht waren.

Der Streit mit Warschau wurde inzwischen beigelegt, weil sich die neue polnische Regierung klar zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit bekannte. Im Falle Ungarns führten einige Teilreformen zur Freigabe von 10,2 Milliarden Euro.

Mehr als 22 Milliarden aber bleiben, wegen der weiter großen Defizite in Sachen Rechtsstaatlichkeit, eingefroren, erklärt Anna Lührmann, Europa-Staatsministerin im Auswärtigen Amt. Denn sie erwarte von Ungarn weiterhin klare Fortschritte bei den Themen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Medienfreiheit und Korruptionsbekämpfung.

Erstmalige Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus

Ungarn ist bisher das einzige Land, gegen das auch der seit 2021 existierende Rechtsstaatsmechanismus angewandt wurde. Die Idee dahinter ist, dass Ländern, in denen beispielsweise die Unabhängigkeit der Justiz und der Medien nicht gewährleistet ist oder in denen Korruption und Vetternwirtschaft grassieren, die EU-Gelder gekürzt werden, weil sich deren korrekte Verwendung nicht garantieren lässt. Ein Teil der Ungarn vorenthaltenen Finanzen sind aufgrund dieses Mechanismus nicht gezahlt worden.

Der Rechtsstaatsmechanismus ist das schärfste Schwert, das die EU zur Verfügung hat, um gegen Mitgliedstaaten vorzugehen, die die in den Europäischen Verträgen vereinbarten Werte verletzen. Ein im vergangenen Jahr vom Parlament in Auftrag gegebener Report mehrerer europäischer Wissenschaftsinstitute empfiehlt, den Mechanismus künftig häufiger anzuwenden.

Und zwar nicht wie bisher als letzte Option, sondern als Präventionsinstrument. Denn in den allermeisten Fällen wirke schon die Androhung von Mittelkürzungen.

Matthias Reiche, ARD Brüssel, tagesschau, 16.05.2024 10:31 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 16. Mai 2024 um 09:05 Uhr.