Heinsberg-Studie zu Coronavirus 1,8 Millionen Infizierte in Deutschland?
Gangelt im Kreis Heinsberg war ein Coronavirus-Hotspot. Dazu liegt nun eine Studie vor. Aufgrund der Zahlen wird die Dunkelziffer für ganz Deutschland auf das Zehnfache geschätzt. Doch das ist umstritten.
In Deutschland könnten sich nach Ergebnissen der sogenannten Heinsberg-Studie mittlerweile möglicherweise 1,8 Millionen Menschen mit dem Coronavirus infiziert haben. Dies ergebe eine Schätzung auf der Grundlage einer Modellrechnung, teilte die Universität Bonn mit.
Die Forscher um den Virologen Hendrik Streeck zogen für ihre Schätzung die Dunkelziffer der Infizierten in der untersuchten Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg und die dort errechnete Sterblichkeitsrate bei einer Corona-Infektion heran. Die Forscher gehen davon aus, dass in Gangelt 0,37 Prozent der Infizierten gestorben sind. Allerdings flossen in die Berechnung der Sterblichkeitsrate nur sieben Todesfälle ein.
Der Bonner Virologe Hendrik Streeck leitete die Studie, mit der untersucht wurde, wie sich das Coronavirus in der Gemeinde Gangelt ausgebreitet hat.
Hochgerechnete Dunkelziffer
Aus diesen Daten errechneten sie eine theoretische Zahl für Deutschland. Das funktioniert im Prinzip so: Die Forscher gehen davon aus, dass in ganz Deutschland die Sterblichkeit in etwa gleich ist. Wenn also bekannt ist, wieviele Infizierte auf einen Toten kommen, kann man von der Zahl der Verstorbenen auf die Zahl der tatsächlich Infizierten - auch der nicht erfassten - schließen.
Lege man für die Hochrechnung die Zahl der mit Corona assoziierten Todesfällen in Deutschland zugrunde, die das Robert Koch-Institut (RKI) aktuell mit 6692 angibt, so ergebe sich eine geschätzte Gesamtzahl von rund 1,8 Millionen Infizierten. "Das muss man natürlich immer ein bisschen mit Vorsicht genießen, es ist eine Schätzung", räumte Streeck ein.
Epidemiologe Krause meldet Zweifel an
Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig, warnte in einer Videokonferenz mit Journalisten davor, die Zahlen aus Gangelt auf ganz Deutschland zu übertragen. "Ich bin da doch eher zurückhaltend", sagte er.
Man könne zum Beispiel argumentieren, dass der Anteil der Corona-Toten in Gangelt ungewöhnlich niedrig sei. Es sei denkbar, dass die Ausbreitung des Virus in Seniorenheimen - wie man sie in den vergangenen Wochen beobachtet habe - in der Studie noch nicht abgebildet werde.
In der Modellrechnung falle aufgrund der kleinen Größe der Gemeinde zudem ein einzelner Todesfall mehr oder weniger stark ins Gewicht. Insgesamt bezeichnete Krause die Daten der Studie allerdings als "sehr überzeugend".
Nur bedingt vergleichbar mit anderen Regionen
Ein Forscher-Team um Streeck hatte in Gangelt in Nordrhein-Westfalen 919 Einwohner in 405 Haushalten befragt und Corona-Tests vorgenommen. In dem Ort hatten sich nach einer Karnevalssitzung Mitte Februar viele Bürger mit dem neuartigen Virus infiziert. Die Gemeinde gilt daher als Epizentrum des Virus.
Die Situation ist nur bedingt vergleichbar mit anderen Regionen Deutschlands - etwa ist die Zahl der Infizierten höher. Darauf weisen die Forscher in ihrer Studie auch hin. In der Stichprobe waren Kinder etwas unter-, ältere Menschen etwas überrepräsentiert.
Sterblichkeitsrate steht im Zentrum
Im Zentrum der Studie, deren wissenschaftliches Publikationsverfahren mit einer Überprüfung durch Experten noch aussteht, stand laut Uni Bonn die Sterblichkeitsrate. Diese Infektionssterblichkeit (Infection Fataly Rate, IFR) gibt den Anteil der Todesfälle unter den Infizierten an und gelte im Vergleich zur sogenannten Fallsterblichkeit als der verlässlichere Parameter, hieß es. Laut der Studie waren in Gangelt 15 Prozent der Menschen infiziert - die Infektionssterblichkeit liege bei 0,37 Prozent.
"0,37 Prozent ist ein Anhaltspunkt, aber es ist kein definitiver Wert", sagte Streeck der ARD. "Wir können nicht sagen, dass die Dunkelziffer definitiv zehnfach höher liegt." Bisher sei man von einem Spektrum von 0,2 bis 1,5 Prozent Sterblichkeitsrate ausgegangen, die Weltgesundheitsorganisation WHO habe sogar von 3,4 Prozent gesprochen. "Diese Spannbreite können wir durch diese Studie jetzt verringern auf einen sehr viel kleineren Fehlerbereich."
Keine Symptome bei 22 Prozent der Infizierten
Den Ergebnissen zufolge zeigten in Gangelt 22 Prozent der Infizierten "gar keine Symptome". Sie wussten bis zum Test teilweise nicht, dass sie überhaupt krank waren. Martin Exner, Leiter des Instituts für Hygiene und öffentliche Gesundheit und Co-Autor der Studie, sagte laut Mitteilung: "Jeder vermeintlich Gesunde, der uns begegnet, kann unwissentlich das Virus tragen. Das müssen wir uns bewusst machen und uns auch so verhalten." Dies bestätige die Wichtigkeit der allgemeinen Abstands- und Hygieneregeln in der Corona-Pandemie.
Ein weiterer Punkt, der für die Praxis interessant sein könnte, sei die starke Verbindung mit der Karnevalssitzung, sagte Streeck. Auffallend war, dass Personen häufiger Corona-Symptome hatten, die an der Karnevalssitzung teilgenommen hatten. Im Raum steht daher die Frage, ob körperliche Nähe zu anderen Feiernden und eine erhöhte Tröpfchenbildung durch lautes Sprechen und Singen zu einem stärkeren Krankheitsverlauf beigetragen haben. Dazu plane man weitere Untersuchungen, erklärte Gunther Hartmann, Co-Autor der Studie und Direktor des Instituts für Klinische Chemie und Klinische Pharmakologie an der Uni Bonn.
Kritik an der Studie
Das Setting der Studie hatte in den vergangenen Wochen bereits für Kritik gesorgt. Die Studie war im Auftrag der NRW-Landesregierung entstanden und von dieser nach Angaben des nordrhein-westfälischen Gesundheitsministeriums mit 65.315 Euro unterstützt worden. Erste Ergebnisse waren Anfang April im Beisein von Ministerpräsident Armin Laschet vorgestellt worden, woraufhin sich dieser für Lockerungen der Corona-Beschränkungen ausgesprochen hatte.
Zudem wurde bemängelt, dass die Berliner Agentur Storymachine des ehemaligen "Bild"-Chefredakteurs Kai Diekmann die Studie mit einer Dokumentation unter anderem in sozialen Medien unterstützt. Laut Storymachine hat die Agentur von sich aus Hilfe angeboten. Es seien weder Steuergelder noch finanzielle Mittel der Universität Bonn geflossen.
Die Kritik habe ihn nicht unbeeindruckt gelassen, erklärte Streeck im ARD-Interview. Es gebe an Studien immer Diskussionspunkte. "Das ist die Natur der Wissenschaft."