Kaja Kallas spricht auf einer Pressekonferenz
Kontext

Designierte EU-Außenbeauftragte Desinformation über Kallas und ihre Familie

Stand: 08.07.2024 14:37 Uhr

Wegen ihrer klaren Haltung gegenüber Russland ist die estnische Ministerpräsidentin Kallas im Fokus russischer Desinformation - als designierte EU-Außenbeauftragte umso mehr. Vor allem ihre Familiengeschichte wird thematisiert.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

"Das ist Kaja Kallas, die geistesgestörte und extrem russophobe Premierministerin von Estland und neue Außenministerin der EU" - so beginnt ein Post in den sozialen Netzwerken, das ein Foto der derzeitigen estnischen Ministerpräsidentin und designierten EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas und ihrer Familie zeigen soll. Auf dem Bild ist eine junge Kaja Kallas gemeinsam mit ihren Eltern zu sehen, die auf einem Sofa sitzen.

Verbreitet wird das Bild von prorussischen Kanälen, auch in deutschsprachigen. Das Foto soll die Lebensgeschichte von Kallas infrage stellen. So heißt es ironisch, dass Kallas' Ausrede für ihre Antipathie gegenüber Russland sei, dass sie und ihre Familie unter der "bösen, bösen Sowjetunion" gelitten habe.

In Wahrheit habe ihre Familie zur sowjetischen Elite gehört. Und ohnehin sei es ein Mythos, dass die Zeit der sowjetischen Besatzung "jahrzehntelange Dunkelheit und Schrecken" bedeutete. Doch an den verbreiteten Postings sind mehrere Sachen falsch.

Foto stammt nicht aus Sowjetzeit

Zunächst einmal ist das Foto von Kallas und ihren Eltern nicht während der Zeit der Sowjetunion entstanden, sondern danach. Das bestätigte unter anderem Kallas selbst. Das Bild wurde demnach im Jahr 1994 oder 1995 aufgenommen, also einige Jahre nach der Wiedererlangung der estnischen Unabhängigkeit 1991. Als vermeintlicher Beweis, wie gut es der Familie zu Zeiten der Sowjetunion gegangen sei, dient das Foto damit nicht.

Über ihre Familie zu Zeiten der Sowjetunion hat Kallas bereits mehrere Male gesprochen. So sagte sie, dass ihre Mutter, Großmutter und Urgroßmutter nach der Okkupation Estlands durch die Sowjetunion 1949 nach Sibirien deportiert worden seien. Ihre Mutter sei dabei erst sechs Monate alt gewesen. Ihr Großvater sei in ein sibirisches Gefangenenlager gebracht worden.

Solche Massendeportationen waren unter dem damaligen Diktator der Sowjetunion, Josef Stalin, Teil seiner Terrorherrschaft. Alleine in Estland wurden in den Jahren von 1945 bis 1953 mehr als 35.000 Menschen nach Russland deportiert, oft aus reiner Willkür.

Kallas' Familienangehörige überlebten die Zeit in Sibirien und kamen später wieder nach Estland zurück.

"Typisch estnische Familiengeschichte"

Kaja Kallas Vater, Siim Kallas, machte in der Sowjetunion Karriere, die höchsten Posten hatte er jedoch nach der estnischen Unabhängigkeit inne. Er war Mitglied der Kommunistischen Partei, arbeitete später im Finanzministerium der Estnischen Sowjetrepublik und wurde anschließend Vorsitzender der Zentralunion der Gewerkschaften. Er gilt als Vertreter der Wirtschaftsliberalisierung in Estland.

Siim Kallas, der nach der estnischen Unabhängigkeit nicht nur Ministerpräsident des Landes war, sondern auch in der EU hochrangige Posten inne hatte, sagte über seine Position in der Sowjetrepublik bei einer Anhörung im Europäischen Parlament: "Ich war immer ein Befürworter der Marktwirtschaft. Ich habe sogar Vorträge gehalten, in denen ich für die Marktwirtschaft warb."

Er habe weder repressiven kommunistischen Vollzugsorganen angehört noch sei er in Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwickelt gewesen. Siim Kallas sagte zudem, er sei ursprünglich in die Kommunistische Partei eingetreten, weil er glaubte, dass "das System von innen heraus verändert werden kann".

"Die Geschichte der Familie Kallas ist eine sehr typisch estnische Familiengeschichte", sagt Karsten Brüggemann, Professor für Estnische und Allgemeine Geschichte an der Universität Tallinn in Estland. "Teile der Familie sind deportiert worden, andere sind im weiteren Verlauf der sowjetischen Annexion in den Gremien der Partei aufgestiegen und haben Karriere gemacht."

Ob behauptet werden könne, dass Siim Kallas von der Sowjetzeit profitiert habe, ließe sich nicht so einfach belegen. "Menschen, die Karriere machen wollten, mussten natürlich auch in der Parteihierarchie aufsteigen." Öffentlich bekannt wurde Kallas 1987 als Mitautor eines Plans, der auf eine Wirtschaftsautonomie der Estnischen Sowjetrepublik abzielte. Wenn auch verklausuliert, war dies mit der planwirtschaftlichen Ideologie der Parteizentrale in Moskau nicht mehr zu vereinbaren.

Sowjetzeit als Fremdherrschaft

Dass in Estland die sowjetische Machtübernahme negativ gesehen wird, hat nach Ansicht von Brüggemann vor allem einen Grund: Durch die kurze Phase der estnischen Unabhängigkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe man die Sowjetherrschaft als Fremdherrschaft angesehen. "Für viele Leute, die Ende der 1980er-Jahre aktiv waren, war das erlebte Vergangenheit, sie waren in einem unabhängigen Staat geboren worden." Das sei bei anderen Sowjetrepubliken nicht der Fall gewesen.

Zwar stand die estnische Sowjetrepublik im Vergleich zu den anderen Sowjetrepubliken wirtschaftlich zum Teil deutlich besser da, neben den Massendeportationen zu Beginn waren jedoch wie in der ganzen Sowjetunion wesentliche Grundrechte wie Meinungsfreiheit und Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt.

Über Estlands Zeit während der Sowjetunion haben sich laut Brüggemann daher zwei sehr politisierte Narrative entwickelt, die einander widersprechen. "Einerseits gibt es das estnische Narrativ, das die Sowjetzeit als Geschichte von Terror, Verfolgung und Deportation erzählt, und dann das sowjetische Narrativ, dem zufolge die imperiale Herrschaft nur Gutes für die kleinen nichteuropäischen Völker des Imperiums gebracht hat."

Von einem Mythos zu sprechen, wenn es um die Schrecken der Sowjetzeit in Estland geht, hält Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) für falsch. "Die Zwangseingliederung in die Sowjetunion, der Verlust von Staatlichkeit und Souveränität sowie die mannigfachen Repressionen haben den Freiheitsdrang im Land nicht gebrochen, sondern letztlich gestärkt."

Insofern sei es Bestandteil der estnischen Identität, dass die Sowjetzeit primär als Ära der Unterjochung und der Fremdherrschaft empfunden werde. "Dass es in einem totalitären System aber auch Kompromisse, ein Sich-Arrangieren und ebenso ein Andienen an die Macht gab und nur ein kleiner Teil der Gesellschaft im Widerstand sein konnte, ist natürlich ebenso Teil der Realität."

Estland erklärte früh seine Unabhängigkeit

Estland gehörte mit Litauen zu den ersten Sowjetrepubliken, die ihre Unabhängigkeit erklärten: In einem Referendum am 3. März 1991 stimmten knapp 78 Prozent der Esten für die Unabhängigkeit. Und das, obwohl während der Zeit der Sowjetunion zahlreiche Menschen aus Russland und anderen Sowjetrepubliken nach Estland auswanderten oder auch zwangsumgesiedelt wurden. Dadurch stieg der Anteil ethnischer Russen in der Gesamtbevölkerung zeitweise auf 30 Prozent.

"Die russischsprachige Gemeinschaft in Estland ist jedoch kein monolithischer Block", sagt Lang. Zum einen seien darunter auch Menschen, die einstmals aus anderen Sowjetrepubliken nach Estland kamen, die sich also nicht ethnisch oder national als russisch definieren. "Zum anderen haben sich auch die russischen Bevölkerungsgruppen in den baltischen Staaten sozial und kulturell ausdifferenziert. Es gibt hinsichtlich des Lebensstils, aber auch in den politischen Ansichten und bei der Einstellung zum estnischen Gemeinwesen ganz unterschiedliche Haltungen."

Schwieriges Verhältnis zwischen Estland und Russland

Das Verhältnis zwischen Estland und Russland war nach dem Zerfall der Sowjetunion sehr angespannt, sagt Lang. Zum einen weil in Estland die ethnischen Russen nicht automatisch die estnische Staatsbürgerschaft erhielten. So wurden mehrere hunderttausend Menschen staatenlos. Um die estnische Staatsbürgerschaft zu erhalten, mussten sie unter anderem einen Sprachtest bestehen.

"Die Menschen, die aus der Sowjetunion unter der sowjetischen Herrschaft eingewandert sind, sind als Migranten aus dem eigenen Kollektiv herausgeschrieben worden", sagt Brüggemann. Die Minderheitenpolitik der 1990er-Jahre sei tatsächlich gegen dieses Relikt gerichtet gewesen, gegen das historische Erbe der Sowjetunion.

Das zeigte sich auch beim estnischen Umgang mit sowjetischen Denkmälern. So sorgte beispielsweise die Verlegung des Bronzesoldaten von Tallinn im Jahr 2007 für Proteste von Teilen der russischsprachigen Bewohner Estlands und auch der russischen Regierung. Als Reaktion kam es zu zahlreichen Hackerangriffen gegen staatliche Institutionen in Estland.

Nach Beginn des russischen Angriffskriegs kündigte Kaja Kallas an, sämtliche sowjetische Denkmäler in Estland zu demontieren oder verlegen zu lassen. Das führte dazu, dass Russland sie zur Fahndung ausschreiben ließ, weil sie "feindliche Handlungen gegen die historische Erinnerung und gegen unser Land" ausführe.

Falschbehauptungen über Kallas

Dass in russischen Kanälen Desinformation über Kaja Kallas verbreitet wird, ist daher nicht neu. So wurde unter anderem behauptet, sie wolle russische Staatsbürger, die in der EU leben, töten.

In Wahrheit hatte sie jedoch gesagt, dass es notwendig sei, russische Staatsbürger in der EU hinsichtlich ihrer Eignung zu prüfen, in einem demokratischen Land zu leben, da der Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft ein klares Signal für die Unterstützung des Terrorismus und der Aktionen Russlands sei.

"Dass Kallas durch ihre Nominierung für das Amt der EU-Außenbeauftragten noch stärker in den Fokus russischer Desinformation geraten ist, überrascht nicht", sagt Lang. Denn die Solidarität der Esten mit der Ukraine sei auch im europäischen Vergleich mit am größten, politisch wie materiell.

Mit Blick auf die Sowjetzeit seien jedoch sowohl die estnische als auch die russische Sichtweise oft zu stark vereinfacht, so Brüggemann. "Die Sowjetzeit war viel komplexer, als es die üblichen Narrative darstellen."

Dieses Thema im Programm: Dieser Beitrag lief am 28. Juni 2024 um 07:35 Uhr im Deutschlandfunk.