Ein analoges Thermometer vor der heißen Sommersonne
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Verharmlosung des Klimawandels Klima-Desinformation mit irreführender Grafik

Stand: 11.11.2024 10:46 Uhr

Im Netz wird eine Grafik geteilt, auf der die Durchschnittstemperatur der Erde der vergangenen 485 Millionen Jahre abgebildet ist - um den Klimawandel zu verharmlosen. Dabei gibt die Grafik in Wahrheit Grund zur Sorge.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

"Ganz schön kalt, dieser Klimawandel. Oder ist das jetzt nur Wetter?" - Mit diesen Worten hat der Ex-Bild-Chef Julian Reichelt auf der Plattform X eine Grafik geteilt, derzufolge es in Hunderten Millionen von Jahren wärmer auf der Erde war als heutzutage. Reichelt suggeriert damit, dass der Klimawandel offenbar nicht so dramatisch sein kann, wie es von Klimaforschern behauptet wird. Die Grafik wird in den sozialen Netzwerken oft verbreitet, um den Klimawandel zu verharmlosen. Allerdings ist das aus Sicht von Experten irreführend.

Grafik auf Grundlage einer neuen Studie

Die Grafik stammt ursprünglich aus einem Artikel der "Washington Post" auf Grundlage einer im September erschienenen Studie. Für diese Studie haben Forschende die globale Durchschnittstemperatur der vergangenen 485 Millionen Jahre errechnet. Demnach schwankte die globale mittlere Oberflächentemperatur im Laufe der Zeit von elf Grad Celsius bis 36 Grad. Über den ganzen Zeitraum betrachtet, liegt die globale mittlere Oberflächentemperatur aktuell dabei eher im niedrigen Bereich.

Genau darauf verweisen auch die zahlreichen Klimawandelverharmloser im Netz. Doch das ist zu kurz gedacht, sagt Klimaforscher Niklas Höhne vom New Climate Institute. "Die Grafik ist grundsätzlich richtig", sagt er. "Sie zeigt, dass sich in den letzten 500 Millionen Jahren die Temperatur auf der Erde verändert hat. Aber das ist völlig irrelevant, denn uns interessieren nicht wirklich die letzten 500 Millionen Jahre."

Denn vor 500 Millionen Jahren gab es noch nicht einmal Landsäugetiere auf der Erde, geschweige denn den Homo sapiens. Die ältesten Funde des Homo sapiens sind etwa 300.000 Jahre alt. Das bedeutet, dass der Mensch sich in einer der kältesten Epochen entwickelte, als die globale mittlere Oberflächentemperatur elf Grad Celsius betrug. Somit hat der Homo sapiens die ganzen extremen Temperaturschwankungen auf der Erde vorher gar nicht miterlebt.

Da die Grafik einen Zeitraum von 485 Millionen Jahren abdeckt, ist die Entwicklung des Homo sapiens auf dem Zeitstrahl nur minimal vor der heutigen Zeit zu verorten. Denn schon wenige Schritte auf der waagerechten x-Achse bedeuten Zeitsprünge von mehreren Millionen Jahren.

Sreenshot der Washington Post

Extremer Anstieg in den vergangenen Jahrzehnten

Hinzu kommt, dass auf der Grafik zu erkennen ist, dass es in den vergangenen Jahrzehnten einen steilen Temperaturanstieg auf der Erde gegeben hat. So liegt die globale Durchschnittstemperatur im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre von 1850 bis 1900 um mehr als ein Grad Celsius höher. "Durch den rasanten Temperaturanstieg haben die Natur und auch die Menschen viel weniger Zeit, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen", sagt Marie-Luise Beck, ehemalige Geschäftsführerin des Deutschen Klima-Konsortiums (DKK). Im Gegensatz dazu habe sich die Temperatur auf der Erde oftmals viel langsamer verändert, sodass eine Anpassung viel leichter möglich gewesen sei.

Rasche und dramatische Temperaturveränderungen waren hingegen mit Massensterben auf der Erde verbunden, wie auch die Autoren der Studie betonen, von der die Grafik ursprünglich stammt. "Wenn sich die Umwelt so schnell erwärmt, können Tiere und Pflanzen damit nicht Schritt halten", sagte die Wissenschaftlerin Emily Judd der "Washington Post" - und zwar in dem Artikel, aus dem Reichelt die Grafik hat. Zu keinem Zeitpunkt in den fast 500 Millionen Jahren, die sie und ihre Kollegen analysiert haben, habe sich die Erde so schnell verändert wie jetzt. "Wir verändern die Temperatur der Erde mit einer Geschwindigkeit, die alles übertrifft, was wir kennen."

Auch der Zusammenhang zwischen Kohlenstoffdioxid und der Erderwärmung wird durch die Studie erneut deutlich. Denn demnach steigt die Temperatur auf der Erde proportional zu der CO2-Konzentration in der Atmosphäre. "Kohlenstoffdioxid ist wirklich der Dreh- und Angelpunkt", sagte Jess Tierney, ebenfalls Co-Autor der Studie, der "Washington Post". "Das ist eine wichtige Botschaft, wenn es darum geht zu verstehen, warum die Emissionen aus fossilen Brennstoffen heute ein Problem darstellen."

Auch im Bericht der Weltklimarats IPCC wird auf den Einfluss der durch Menschen verursachten Treibhausgase wie Kohlenstoffdioxid hingewiesen. "Menschliche Aktivitäten haben eindeutig die globale Erwärmung verursacht, vor allem durch die Emission von Treibhausgasen", heißt es dort. Und weiter: "Die globale Oberflächentemperatur ist seit 1970 schneller angestiegen als in jedem anderen 50-Jahres-Zeitraum der mindestens letzten 2.000 Jahre."

Weitreichende Folgen für Menschheit

Der schnelle Temperaturanstieg könnte für den Menschen in der Zukunft noch weitreichende Folgen haben, sagt Höhne. "Wir sind abhängig von der Landwirtschaft. Wir sind darauf angewiesen, dass die Pflanzen so wachsen, wie wir es gewohnt sind." Doch durch die Erderwärmung verschöben sich die Klimazonen so schnell, dass die natürlichen Prozesse sich nicht anpassen könnten. "Und das ist das Gefährliche dabei. Wir als Menschen können nachhelfen, aber die Natur kommt da nicht mit. Und wir sind wiederum abhängig von der Natur." Hinzu kämen die vermehrt auftretenden Extremwetterereignisse.

Beck weist zudem daraufhin, dass heutzutage deutlich mehr Menschen auf der Erde leben als noch vor Tausenden von Jahren, als der natürliche, sehr viel langsamere Klimawandel mit dem Ende der letzten Eiszeit einsetzte. "Es gab nur wenige Millionen Menschen, die in nomadischen Kulturen lebten und im Zweifel einfach in bessere Gegenden ziehen konnten."

Heute gibt acht Milliarden Menschen auf der Erde, die mit viel schnelleren Klimaveränderungen konfrontiert seien. Die allermeisten Infrastrukturen, zum Beispiel Küstenstädte, ließen sich nicht so einfach verschieben, nur weil der Meeresspiegel steigt. "Wir sind als moderne Menschheit darauf angewiesen, dass diese Infrastrukturen alle funktionieren und zwar da, wo sie hingestellt wurden", so Beck. "Und all das ist durch den menschengemachten Klimawandel überhaupt nicht gewährleistet."

Forschende warnen vor Konsequenzen

Auch die Wissenschaftler der eingangs erwähnten Studie sehen ihre Ergebnisse als Weckruf dafür, welche Folgen der menschengemachte Klimawandel noch haben wird, sollte sich der extreme Temperaturanstieg fortsetzen. So könnte ihren Berechnungen nach die globale Durchschnittstemperatur bis Ende des Jahrhunderts auf fast 17 Grad Celsius steigen - ein Niveau, das seit mehr als fünf Millionen Jahren nicht mehr erreicht wurde.

Schon jetzt lebten die Menschen in den heißesten jemals aufgezeichneten Jahren. Ein weiterer Temperaturanstieg würde Bedingungen auf der Erde verursachen, wie sie unsere Spezies noch nie erlebt habe. "Solange ein oder zwei Organismen überleben, wird es immer Leben geben. Darüber mache ich mir keine Sorgen", sagte Judd. "Meine Sorge ist, wie menschliches Leben aussieht - was es bedeutet, zu überleben."

Klimadesinformation ist aus Sicht von Höhne daher sehr gefährlich. "Den Klimawandel zu verharmlosen ist ungeheuerlich." Die Taktik, solche Grafiken aus dem Zusammenhang zu reißen und umzudeuten, sei ein typisches Beispiel für Rosinenpickerei - eine gängige Methode von Desinformation. "Solche Desinformationen verfangen sich viel schneller, als das früher der Fall war, so der Wissenschaftler. Und das ist für mich ein Riesenproblem, insbesondere beim Klimawandel, wo es wirklich um unsere Existenz geht."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 11. November 2024 um 15:01 Uhr.