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Kontext

Corona-Pandemie Neue Aufregung um RKI-Protokolle

Stand: 19.08.2024 12:09 Uhr

Erneut wurden Protokolle des RKI während der Corona-Pandemie veröffentlicht - dieses Mal ungeschwärzt. Vor allem eine Einschätzung zur Aussage über die Pandemie der Ungeimpften wird hitzig diskutiert.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

"Wir erleben gerade vor allem eine Pandemie der Ungeimpften - und die ist massiv" - diese Worte sagte der frühere Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am 3. November 2021. Die "Pandemie der Ungeimpften" - eine Formulierung, die zu der Zeit auch weitere Politiker und Medien aufgegriffen hatten. Nun gibt es genau um diese Formulierung einen Sturm der Entrüstung im Netz.

Wirbel um Formulierungen in RKI-Berichten zur Corona-Pandemie

S.Kleine/E.Neumeier, RBB, tagesschau, 23.07.2024 20:00 Uhr

Grund dafür sind bislang unveröffentlichte Protokolle des Robert Koch-Instituts (RKI) von den Jahren 2020 bis 2023, die im Netz ungeschwärzt hochgeladen wurden. In einem Dokument vom 5. November heißt es dabei zum Thema "Wissenschaftskommunikation": "In den Medien wird von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt, Gesamtbevölkerung trägt bei. Soll das in Kommunikation aufgegriffen werden?"

Zu dieser Einschätzung sind noch ergänzende Unterpunkte in dem Protokoll, zum Beispiel, dass es als Appell an alle diene, "die nicht geimpft sind, sich impfen zu lassen". Auch steht dort, dass der Minister (gemeint ist vermutlich Spahn), es bei jeder Pressekonferenz sage und es "eher nicht" korrigiert werden könne. Weiter heißt es: "In der Kommunikation sollte aufgepasst werden, wie kritisch man über den Impfstoff kommunizieren will, immerhin nach einem halben Jahr immer noch >90% Wirksamkeit. Wenn 95% geimpft wären, sähe die Situation anders aus."

Die Frage sei daher, wie man die aktuelle Lage mit welcher Kommunikationsstrategie in den Griff bekommen könne. Deshalb solle die sogenannte AHA+L Formel - also Abstand halten, Handhygiene einhalten, Alltagsmaske tragen und regelmäßiges Lüften - in der Kommunikation auch an Geimpfte adressiert werden.

"Formulierung ist etwas überspitzt"

In den sozialen Netzwerken sorgt diese Passage des RKI-Protokolls für große Aufregung. Medien und Politiker hätten den "frisch enttarnten Schwindel" der Pandemie der Ungeimpften trotz besseren Wissens verbreitet. Vor allem in Kreisen, die der Corona-Impfung ablehnend gegenüberstehen, wird der Ausschnitt derzeit viel geteilt.

"Die Formulierung 'Pandemie der Ungeimpften' ist etwas überspitzt, weil sie suggeriert, dass sich nur Ungeimpfte anstecken", sagt der Virologe Martin Stürmer. Das stimme so nicht. "Es haben sich ja auch immer wieder Geimpfte angesteckt. Natürlich nicht in dem Ausmaß wie Ungeimpfte, aber es hat natürlich den falschen Eindruck erweckt, dass die Ungeimpften die absoluten Pandemietreiber sind."

Seit September 2021 waren die Infektionszahlen in Deutschland ziemlich konstant gestiegen, die Sieben-Tage-Inzidenz lag Anfang November laut Lagebericht des RKI bundesweit bei 162. Zu dem Zeitpunkt waren etwa 67 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. Darüber hinaus erhielten 2.199.521 Menschen eine Auffrischungsimpfung.

Großteil der Corona-Infektionen durch Ungeimpfte

Mit Blick auf das ganze Jahr gesehen war der Großteil der übermittelten Corona-Infektionen zu dem Zeitpunkt nicht geimpft. Die Zahl der Impfdurchbrüche lag je nach Altersgruppe bei 1,5 Prozent (zwölf bis 17 Jahre), 12,4 Prozent (18-59 Jahre) und 18,9 Prozent (60 Jahre und älter). Allerdings hatte sich die Zahl der Impfdurchbrüche im Oktober 2021 stark erhöht - bei den Menschen über 59 Jahren lag sie bei 60,5 Prozent, bei den 18-59-Jährigen bei knapp 40 Prozent.

"Dieser Anteil muss jedoch in Zusammenschau mit der erreichten hohen Impfquote in dieser Altersgruppe interpretiert werden", heißt es dazu im RKI-Lagebericht. Die geschätzte Impfeffektivität lag demnach für diesen Zeitraum dennoch bei etwa 73 Prozent in dieser Altersgruppe und auch bei den 18-59-Jährigen. Der Schutz vor einer Hospitalisierung lag bei mehr als 80 Prozent für beide Altersgruppen, der Schutz vor einer Behandlung auf der Intensivstation bei 90 Prozent.

Das RKI schätzte die Gefährdung für die Gesundheit der nicht oder nur einmal geimpften Bevölkerung zu dem Zeitpunkt daher insgesamt als sehr hoch ein. Für vollständig Geimpfte wurde die Gefährdung als moderat, aber aufgrund der steigenden Infektionszahlen ansteigend eingeschätzt. Zahlen des DIVI-Intensivregisters zeigen, dass Ungeimpfte im Winter 2021 die Mehrheit aller Covid-19-Fälle auf Intensivstationen ausmachten.

Auf Anfrage teilt das RKI mit, dass die Formulierung "Pandemie der Ungeimpften" nicht vom Institut stamme. Allerdings hätten die verfügbaren Daten und Studien zum damaligen Zeitpunkt gezeigt, dass die Impfung einen hohen Schutz insbesondere vor schwerer Covid-19-Erkrankung biete und zudem in einem gewissen Ausmaß auch die Übertragung reduziere. "Daraus folgt, dass Ungeimpfte signifikant häufiger schwere Krankheitsverläufe entwickelten und überproportional häufiger auf Intensivstation behandelt werden mussten als Geimpfte, und darüber hinaus auch mehr zur Virus-Transmission in der Bevölkerung beitrugen."

Da die Impfung aber das Risiko einer Transmission nur reduziert habe, habe das RKI immer wieder betont, dass sich auch Geimpfte weiter an die AHA+L-Regeln halten sollten. Es sei aber genauso klar, dass eine höhere Impfquote zu jenem Zeitpunkt noch besser gewesen wäre, insbesondere um das primäre Impfziel zu erreichen, nämlich die Verhinderung schwerer Covid-19 Erkrankungen in der Bevölkerung und die Überlastung des Gesundheitssystems.

Virusvarianten sorgen für mehr Impfdurchbrüche

"Diejenigen, die sich angesteckt haben und vor allem auch schwer krank geworden sind, waren zu der Zeit überwiegend ungeimpft", sagt auch Stürmer. Allerdings hätte das Infektionsgeschehen auch erkennen lassen, dass eine Impfung nicht mehr so gut vor einer Ansteckung geschützt habe wie noch zu Beginn der Impfkampagne. Im Herbst 2021 war die Delta-Variante in Deutschland weit verbreitet und hatte die Alpha-Variante abgelöst.

"Hinzu kommt, dass wir im November 2021 schon die Omikron-Variante beobachten konnten - zwar nicht in Deutschland, aber international", so Stürmer. Man habe daher gewusst, was für eine hochgradig mutierte Variante auf Deutschland zukomme. "Insofern stand das 3G-Konzept (geimpft, genesen oder getestet) zu dem Zeitpunkt bereits auf wackeligen Beinen und man muss auch kritisch hinterfragen, ob man es nicht etwas früher hätte beenden müssen." So wurde die 3G-Regel am Arbeitsplatz erst im März 2022 aufgehoben.

Kritik an Formulierung gab es bereits

Dass es sich anhand der Zahlen nicht um eine Pandemie der Ungeimpften gehandelt hat, wurde im November 2021 jedoch auch von führenden Wissenschaftlern thematisiert. So hatten unter anderem die Virologen Christian Drosten und Hendrik Streeck in Interviews darauf hingewiesen, dass diese Formulierung nicht richtig sei. Auch in weiteren Medienberichten wurde das aufgegriffen. Von Politikern wurde diese Formulierung nach Anfang November ebenfalls deutlich weniger verwendet.

"Die Formulierung ist eine vereinfachte Darstellung der Situation, dass sich hauptsächlich Ungeimpfte angesteckt haben und dass es hauptsächlich Ungeimpfte waren, die auch die schweren Verläufe hatten", sagt Stürmer. "Insofern ist es jetzt nicht so, dass das komplett aus dem Nichts erfunden wurde. Es gab einen fundierten Hintergrund." Dass die Formulierung dennoch unglücklich gewesen sei, stünde auf einem ganz anderen Blatt. "Ohne die Impfungen wären wir jedoch nicht so schnell aus der Pandemie rausgekommen."