Ermittlerinnen sitzen vor Monitoren mit unkenntlich gemachten Fotografien, die teilweise sexuellen Missbrauch zeigen.
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Irreführende Grafik Warum die Zahl der Sexualstraftaten gestiegen ist

Stand: 01.10.2024 15:03 Uhr

Im Netz wird eine Grafik geteilt, die einen starken Anstieg der Sexualstraftaten in den vergangenen Jahren zeigt. Allerdings wurde das Strafrecht in der Zeit mehrmals geändert, weshalb ein Vergleich kaum möglich ist.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

"Was passierte 2015? - Als ich 2015 exakt diese Entwicklung vorhersagte, kamen die üblichen Anwürfe. Dabei war es immer klar, wie sich Deutschland dank Merkels offenen Grenzen verändern würde: zum sehr Schlechten!" - Mit diesen Sätzen verbreitete der AfD-Abgeordnete im Europäischen Parlament, Maximilian Krah, eine Grafik auf der Plattform X, die die Entwicklung der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung in Deutschland von 1987 bis 2022 zeigen. Der implizierte Vorwurf: Für den starken Anstieg ab dem Jahr 2016 seien männliche Geflüchtete verantwortlich. Doch das ist falsch.

Screenshot X

Grafik wurde bereits öfter verbreitet

Die Grafik stammt aus einem Artikel von t-online und stützt sich auf die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) des Bundeskriminalamts. Zu sehen ist die Anzahl der tatverdächtigen Männer und Frauen. Der zugehörige Artikel stammt aus dem August 2023 und behandelt den starken Unterschied zwischen den Geschlechtern mit Blick auf Sexualstraftaten. Denn wie auch bei vielen anderen Straftatbeständen sind die Tatverdächtigen überwiegend männlich - unabhängig von der Nationalität.

Die Grafik wurde seitdem bereits öfter in den sozialen Netzwerken verbreitet, um Stimmung gegen Geflüchtete zu machen. Dabei ist die Aussagekraft dieser Grafik zum einen sehr begrenzt, zum anderen liegt der Grund für den starken Anstieg nicht bei den Geflüchteten.

Sexualstrafrecht wurde mehrmals geändert

Zu den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, die in der Grafik abgebildet werden, zählen mehrere Paragraphen des Strafgesetzbuches, darunter unter anderem sexueller Missbrauch und Vergewaltigung, aber auch die Verbreitung pornographischer Inhalte und sexuelle Belästigung. In der verbreiteten Grafik werden alle Straftaten zusammengefasst. Das ist jedoch irreführend.

Denn zum einen wurde das Sexualstrafrecht in dem angegebenen Zeitraum gleich mehrmals überarbeitet. Im Jahr 1997 wurde zum Beispiel für sexuelle Nötigung und für Vergewaltigung ein einheitlicher Straftatbestand geschaffen. So galt Vergewaltigung in der Ehe nun als Verbrechen, nicht mehr als Vergehen.

Im Jahr 2016 folgte eine weitere Verschärfung des Sexualstrafrechts. Damals entschied der Bundestag, den Grundsatz "Nein heißt Nein" ins Strafgesetzbuch mit aufzunehmen, also dass jede sexuelle Handlung gegen den erkennbaren Willen eines Dritten unter Strafe fällt. Zudem wurde unter anderem auch sexuelle Belästigung als Straftatbestand mit aufgenommen.

Im Jahr 2021 folgten schließlich weitere Änderungen: So wurde unter anderem der Strafrahmen für das Verbreiten, Herstellen, Beziehen oder Liefern kinderpornographischer Inhalte erhöht und damit als Verbrechen eingestuft. Diese Änderung wurde in diesem Jahr teilweise wieder rückgängig gemacht. Denn durch die Anhebung der Mindeststrafe konnten auch die Fälle nicht einfach eingestellt werden, bei denen kein pädokriminelles Motiv vorlag, zum Beispiel wenn solche Inhalte in Schulhof-Chatgruppen unter Jugendlichen verbreitet wurden.

Vergleich der Jahre kaum möglich

All diese Änderungen führen dazu, dass die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung im Zeitverlauf schwer zu vergleichen sind. Darauf weist übrigens das BKA auch selbst hin. So heißt es zum Beispiel mit Blick auf die Änderung im Jahr 2016: "Dies hat zur Folge, dass der Vergleich der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung mit den Vorjahren nicht bzw. nur eingeschränkt möglich ist."

Zudem schreibt das BKA in der Polizeilichen Kriminalstatistik 2023, dass die Anpassung des Strafrechts in Bezug auf Sexualdelikte 2016 und 2021 die Hürden der Strafbarkeit von sexuellen Übergriffen herabgesetzt haben, was sich auch im Hellfeld niederschlägt. "In der Gesellschaft ist zunehmend starkes Unrechtsbewusstsein sowie zunehmendes Wissen über die Strafbarkeit von Sexualstraftaten und über Opferrechte festzustellen. Das hat die Anzeigebereitschaft erhöht." Das BKA führt dabei unter anderem die #MeToo-Debatte an, die im Jahr 2017 von den USA ausgehend begann.

Berücksichtigt werden muss zudem, dass die deutsche Bevölkerung in den vergangenen Jahren gewachsen ist.

Neuer Straftatbestand sorgt für starken Anstieg

Wie sehr sich die Strafrechtsänderungen in der Polizeilichen Kriminalstatistik niederschlagen, zeigen die Zahlen ganz gut. Während in den Jahren vor 2017 die in der PKS erfassten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung relativ konstant bei ungefähr 47.000 Fällen lagen, sind es 2017 auf einmal knapp 9.000 Fälle mehr - ein Anstieg um etwa 18 Prozent.

Blickt man allerdings auf die einzelnen Straftaten, wird deutlich, wie dieser Anstieg zustande kommt. So ist im Vergleich zum Vorjahr im Jahr 2017 sexuelle Belästigung nach dem neuen Paragrafen 184i hinzugekommen - laut PKS etwa 9.600 Fälle. Ein großer Anteil des Anstiegs aller Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung geht somit auf den neuen Straftatbestand zurück.

20.000 mehr Fälle in nur einer Kategorie

In den Jahren darauf kommt es zu teilweise noch deutlich größeren Sprüngen mit Blick auf alle Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Der höchste Anstieg ist im Jahr 2021 zu verzeichnen: In der PKS werden insgesamt 106.656 Fälle angeführt und damit etwa 25.000 Fälle mehr als im Vorjahr. Doch auch hier zeigt sich, dass dieser massive Anstieg vor allem auf einen Bereich zurückzuführen ist.

Denn im Jahr 2021 wurden etwa 39.000 Fälle von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung kinderpornografischer Schriften nach Paragraf 184b in der PKS erfasst - gut 20.000 Fälle mehr als im Vorjahr. Knapp 2.000 Fälle mehr als im Vorjahr wurden zudem bei der Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung jugendpornografischer Schriften gezählt.

BKA nennt Erklärungen für Anstieg

Auch hier liefert das BKA bereits selbst mehrere Erklärungen für diesen Anstieg mit. So wurde als Reaktion auf die Fälle schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie der Produktion und Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen von Kindern im nordrhein-westfälischen Lügde die Strafverfolgung bei Missbrauchsdarstellungen intensiviert.

"In der Gesellschaft ist zunehmend starkes Unrechtsbewusstsein sowie zunehmendes Wissen über die Strafbarkeit von Sexualstraftaten und über Opferrechte festzustellen", heißt es zudem in der PKS. Das habe zu einer erhöhten Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung geführt.

Zudem ist nach Angaben des BKA die internationale Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC) in den vergangenen Jahren enger geworden - ein Großteil aller Hinweise kommen aus den USA, wo die Internetprovider gesetzlich verpflichtet sind, Missbrauchsdarstellungen zu melden.

Viele Tatverdächtige noch minderjährig

Ein weiterer Grund für den hohen Anstieg in den Bereichen Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung kinder- und pornografischer Schriften ist nach Angaben des BKA zudem darauf zurückzuführen, dass "vor allem Kinder und Jugendliche ohne Kenntnis eines strafrechtlichen Hintergrundes kinder- und jugendpornografische Darstellungen in Gruppenchats und auf Social Media Plattformen (WhatsApp, Instagram, Snapchat, Facebook usw.) teilen und somit verbreiten".

Die Anzahl minderjähriger Tatverdächtiger hat sich seit 2018 mehr als verzehnfacht - in den vergangenen Jahren stellten sie somit etwa 40 Prozent aller Tatverdächtigen in dieser Kategorie.