Berichterstattung zur Flüchtlingskrise Studie kritisiert mangelnde Neutralität

Stand: 22.07.2017 19:52 Uhr

Haben deutsche Medien 2015 über die Flüchtlingskrise einseitig berichtet und so zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen? Eine Studie kommt zu diesem Schluss. Von einem generellen Medienversagen will der Studienleiter aber nicht sprechen.

Von Matthias Vorndran, MDR

Wer steckt hinter der Studie?

Die Studie wurde von der der IG Metall nahestehenden Otto-Brenner-Stiftung in Auftrag gegeben und gemeinsam von der Hamburg Media School und der Universität Leipzig durchgeführt. Sie befasst sich auf 184 Seiten mit der Berichterstattung zur Flüchtlingskrise im Zeitraum Februar 2015 bis März 2016.

Kommunikationswissenschaftler Michael Haller, wissenschaftlicher Direktor des Europäischen Instituts für Journalismus und Kommunikationsforschung, analysierte mit seinem Team mehr als 30.000 Berichte regionaler und überregionaler Zeitungen, aber auch Beiträge von News-Websites wie "Spiegel Online" und tagesschau.de.

Welche Fragen standen im Fokus?

Das Hauptaugenmerk bei der Interpretation der erhobenen Daten lag auf zwei Fragen:

  • Stimmt es, dass die Journalisten der Informationsmedien über die Flüchtlingsthematik des Jahres 2015 parteiergreifend, vielleicht auch nur einseitig berichtet haben?
  • Trifft es zu, dass sich die sogenannten Leitmedien mit der politischen und wirtschaftlichen Elite verbündet und Andersdenkende, auch die Unzufriedenen und Oppositionellen, missachtet haben?

Wie sind die Wissenschaftler vorgegangen?

Zunächst verglichen die Forscher die Berichterstattung von drei Medien, die sie als besonders glaubwürdig und reichweitenstark einschätzen: tagesschau, tagesschau.de und "Spiegel Online".

Anhand der Berichte in diversen Medien zu Ereignissen wie Merkels Statement "Wir schaffen das!", dem Bild des toten Jungen am Strand von Bodrum (Türkei) und der Silvesternacht in Köln definierten sie in einem zweiten Schritt den Untersuchungszeitraum genauer. Im Folgenden analysierten sie die Berichterstattung von "Süddeutsche Zeitung", "Frankfurter Allgemeine Zeitung" und "Die Welt" in den rund 20 Wochen bis März 2016. Angebote der ARD waren nicht Gegenstand dieses zweiten Teils der Studie.

In einem vierten Schritt wurden zusätzlich Lokal- und Regionalzeitungen herangezogen, um die Rolle des Begriffs "Willkommenskultur" seit 2005 nachzuzeichnen. Grundlage dafür waren rund 17.000 redaktionelle Beiträge, die in Zusammenarbeit mit Informatikern von der Universität Leipzig wissenschaftlich ausgewertet wurden.

Wie lauten die wichtigsten Ergebnisse?

In 20 Punkten haben die Wissenschaftler ihre Erkenntnisse zusammengefasst. Sie kommen zu dem Schluss, dass die Medien im untersuchten Zeitraum der ihr zugewiesenen demokratischen Funktion nicht gerecht wurden. Die wichtigsten Ergebnisse:

  • tagesschau, tagesschau.de und "Spiegel Online" wird vorgeworfen, sie seien insbesondere im ersten Halbjahr 2015 kaum in der Lage gewesen, die Flut der Meldungen und Berichte für die Leser zu sortieren und aufzubereiten. Die Folge sei eine Überforderung des Publikums, "Medienverdruss" und eine damit einhergehende Verstärkung der bestehenden Vorurteile über Flüchtlinge gewesen.
Im analytischen Rückblick lautete die Kernbotschaft der Newsberichte in jenen Monaten: Einerseits ertrinken viele Tausend verzweifelter Flüchtlinge im Mittelmeer oder erreichen mit letzter Kraft die Grenzen Europas. Andererseits sind die EU-Staaten und ist die Regierungspolitik hilflos zerstritten, während in den östlichen Bundesländern eine gewalttätige Szene agiert. Diese wird pauschal als Dunkeldeutschland etikettiert und damit ausgegrenzt. (S. 135)
  • Das Thema "Flüchtlingskrise" sei vor allem aus der Perspektive von Politikern beschrieben worden. Andere Beteiligte, die die unmittelbaren Auswirkungen der Krise im Alltag bewältigen, erschienen so unwichtig.
Die eigentlichen Hauptakteure - die Helfergruppen, Einrichtungen, freien Träger und Initianten, die sich, viele freiwillig, in erster Linie um Flüchtlinge kümmerten - stellen nur rund 3,5 Prozent aller relevanten Personen, die in den redaktionellen Beiträgen genannt werden. (S. 135)
  • Dabei sei zudem vorwiegend über die Regierungsparteien berichtet und deren Positionen zum Teil unkritisch übernommen worden. Die Opposition sei unterrepräsentiert gewesen.
Akteure der Parteien und Gruppen am rechten politischen Rand - die in mehreren Bundesländern in den Parlamenten sitzen - hatten in der medialen Öffentlichkeit zu diesem Thema offenbar nichts Relevantes zu sagen. Wenn sie erwähnt wurden, dann nur beiläufig. (S. 39)
  • In rund der Hälfte der Berichterstattung sei der journalistische Qualitätsgrundsatz der Neutralität und Sachlichkeit nicht eingehalten, sondern wertend und urteilend formuliert worden. Meinungsbeiträge wie Kommentare seien in der Überzahl gewesen, Interviews dagegen kaum zu finden. Außerdem sei aus den Texten oft eine "persönliche Nähe, auch Vertrautheit zur politischen Elite" herauszulesen.
Politik wird in den Medien überwiegend nicht als Prozess der Entscheidungsfindung, sondern als Schlagabtausch unter Mandatsträgern inszeniert. (S. 137)
  • Sorgen und Ängste der Bevölkerung seien in der Berichterstattung zu kurz gekommen. "Kaum ein Kommentar", so die Autoren "versuchte eine Differenzierung zwischen Rechtsradikalen, politisch Verunsicherten und besorgten, sich ausgegrenzt fühlenden Bürgern. So dienten die Kommentare grosso modo nicht dem Ziel, verschiedene Grundhaltungen zu erörtern, sondern dem, der eigenen Überzeugung bzw. der regierungspolitischen Sicht Nachdruck zu verleihen."
Grundrechtsbezogene Ängste und Bedenken wurden erst im Januar 2016 während ein paar Wochen relevant, als sich mit der sogenannten 'Kölner Silvesternacht' eine andere, man möchte sagen: dunkle Seite zeigte, die mit dem Euphemismus der Willkommenskultur nicht zusammenpasste. (S. 92)
  • Rund um den Begriff "Willkommenskultur" habe sich in der Berichterstattung eine Art "moralisch intonierte Verpflichtungsnorm" entwickelt, also ein positiv besetztes Leitbild. Bedenkenträger und Skeptiker seien zu kurz gekommen.
Dieser sich selbst begründende Euphemismus wurde in den Tageszeitungsberichten zu einer Art Zauberwort verklärt, mit dem freiwillig von den Bürgern zu erbringende Samariterdienste moralisch eingefordert werden konnten. (S. 139)

Wie lautet die Kritik?

Im gemeinsamen Morgenmagazin von ARD und ZDF kommentierte Fabian Leber vom "Tagesspiegel" die Studie. Bezugnehmend auf die Presse-Berichterstattung in der Flüchtlingskrise räumte er ein: "Es gibt sicherlich kritikwürdige Punkte".

Doch zwei Aspekte der Studie hält Leber ebenfalls für erwähnenswert: Gastbeiträge in den untersuchten Medien seien für die Studie nicht berücksichtigt worden. Und unmittelbar nach der eigentlichen Flüchtlingskrise habe bei den Medien eine "Selbstreflexion" eingesetzt. Die sei in der Studie aber nicht mehr aufgenommen worden. Details zur Methodik werden am Montag veröffentlicht.

Auch die Wochenzeitung "Die Zeit" - selbst nicht Gegenstand der Studie - übt Kritik. Die Untersuchung lese sich bisweilen so, als "hätten die Wissenschaftler dem Wunsch hinterhergeforscht, die Branche am Kragen zu packen und einmal kräftig durchzuschütteln. "Unstimmig", so heißt es im Artikel weiter, "werden die Darlegungen dort, wo die Autoren der FAZ zugestehen, dass sie in 'vielen' Kommentaren gegen eine unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen plädierte, das Blatt aber trotzdem als Rufer in der großen, eintönigen Echokammer einsortieren".

Wie beurteilt der Forschungsleiter die Ergebnisse?

In einem Interview mit dem Medienmagazin Zapp sprach Forschungsleiter Haller im August 2016 über die ersten Ergebnisse seiner Arbeit. Schon damals kritisierte er, dass die untersuchten Medien die Erzählungen über die "Willkommenskultur" im Sommer 2015 ungefragt übernommen hätten. In dieser Zeit hätten seiner Ansicht nach viele Medien an Glaubwürdigkeit verloren. Haller kritisierte eine Einseitigkeit in der Berichterstattung vor und nach der Silversternacht in Köln 2015/2016.

Bis in die Weihnachtszeit wurde das prekäre Verhalten vieler junger Asylbewerber quasi übersehen: Willkommenskultur! Dann kam der Schock der Silvesternacht und alle sagten rückblickend, wir haben offenbar geträumt, jetzt aber ran an die Realität! Diese besteht jetzt aus sexbesessenen Arabern. Also von der einen Einseitigkeit in die andere.

In der Tageszeitung "Die Welt" wehrte sich Studienautor nun aber auch gegen das Pauschalurteil, die Medien hätten in der Flüchtlingskrise versagt: Mit dem Begriff "Versagen" möchte er vorsichtig umgehen, sagte Haller. Der Informationsjournalismus habe seine wichtigen gesellschaftlichen Aufgaben in der Flüchtlingskrise aber nur "sehr bedingt erfüllt".

Der [Informationsjournalismus] wollte nicht Verständigung, sondern gab den Besserwisser. Er hat die Polarisierung zwischen den Gruppen gefördert. Und so zerfällt die Gesellschaft zunehmend in abgekoppelte Kommunikations- und Meinungsinseln.

Die mediale Aufregung über seine Studie kann Haller nicht nachvollziehen: Dem Blog Übermedien sagte er im Interview, "Medienbashing" sei nicht sein Ziel gewesen. Stattdessen habe es eine"blödsinnige, überspitzte Vorabmeldung" in der "Zeit" gegeben. Nun, klagt Haller, werde man die Zeile "Die Medien haben völlig versagt" auf den Websites der Journalistenhasser zu lesen bekommen.

...und die Schraube der postfaktischen Vorurteilsbestätigungen dreht sich weiter.
Zur Person
Michael Haller ist wissenschaftlicher Direktor des Europäischen Instituts für Journalismus und Kommunikationsforschung (EIJC). Bis 2010 war er als Professor für Allgemeine und Spezielle Journalistik an der Universität Leipzig tätig. Als Journalist arbeitete er für den "Spiegel" und die "Zeit".

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 20. Juli 2017 um 15:35 Uhr.