Europawahl 2024
GroKo nach den Wahlen Im freien Fall
Bei der SPD brechen mit den letzten Bastionen auch letzte Gewissheiten weg. Nahles aber bleibt erstmal - angezählt. Doch auch bei der CDU ist nichts mehr so, wie es unter Merkel mal war.
"Mehr ging nicht", sagt Katarina Barley fast entschuldigend an diesem Wahlabend - und steht damit auch sinnbildlich für die katastrophale Situation ihrer Partei. Nun hatten die Sozialdemokraten vorsorglich die Erwartungen an die Europawahl gar nicht erst übertrieben hochgeschraubt.
Genossin ratlos: Katarina Barley
Dass die dauerlächelnde sympathische Kandidatin Barley mit ihrer ebenso freundlichen wie seichten Wahlkampagne kaum an die 27,3 Prozent von "Mister Europa" Martin Schulz aus dem Jahre 2014 herankommen wird, war parteiintern eingepreist.
Die Zeiten solcher SPD-Ergebnisse sind wohl vorbei, vielleicht für immer. Der Trend ist schon lange kein Genosse mehr und der Zeitgeist auch nicht. Aber dass es so schlimm kommen würde - damit hätten selbst die Pessimisten unter ihnen in ihren gruseligsten Albträumen nicht gerechnet.
Letzte Gewissheiten brechen weg
Europa tut weh, Bremen jedoch womöglich noch mehr. Denn mit dem letzten Bollwerk brechen auch letzte Gewissheiten weg. Wenn die SPD sogar in Bremen nicht mehr gewinnen kann, wo dann? In drei ostdeutschen Bundesländern muss die Partei im Herbst Wahlen bestehen, die Aussichten sind düster. Hinzu kommen die erwarteten Verluste bei den Kommunalwahlen. Der SPD bricht der Unterboden weg.
Es sich im Elend bequem machen - das will man bei der SPD aber auch nicht. "Kopf hoch", fordert Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles. Frei nach dem Motto: Wo Schatten ist, muss ja irgendwo auch Licht sein. Sollte es also der Bremer SPD gelingen, ein Linksbündnis mit Grünen und Linkspartei zu schmieden, könnte ausgerechnet das kleinste Bundesland und Ex-SPD-Bastion ein Testballon auch für den Bund werden. So zumindest das Kalkül des linken Parteiflügels. Früher oder später ist es schließlich mit dieser GroKo vorbei, auf die Zeit danach will man vorbereitet sein.
Im GroKo-Gestrüpp verheddert
Noch aber ist die SPD im GroKo-Gestrüpp verheddert und keine Exit-Strategie überzeugend genug. Wenn die Parteibasis nicht die Nerven verliert und die Führung doch dazu zwingt, hinzuwerfen, bleibt die GroKo zumindest bis zum Herbst politische Realität. Das heißt: Die SPD-Minister arbeiten ihre Projekte ab, streiten sich mit der Union über Klimaschutz und Grundrente - und bleiben doch im Umfragetief. Es wird ein paar neue Gesichter in Merkels Kabinett geben, Barley muss ersetzt werden, womöglich auch Franziska Giffey.
Was bleibt, ist sehr viel nervöse Unruhe - in Partei und Fraktion. Nahles ist angezählt, die Zweifel an ihr ausgeprägt. Nach dem heutigen Wahldesaster hatten nicht wenige mit ihrem Rücktritt gerechnet. Putschgerüchte in der Fraktion säen Misstrauen und verstärken den Eindruck einer zerstrittenen unberechenbaren SPD, die jederzeit quasi im Affekt den Stecker aus der GroKo ziehen könnte. Koalitions-Kamikaze.
Heilsbringer stehen bei der SPD nicht vor der Tür
Politik ist selten fair, und so mag auch der Umgang mit Nahles wenig fair sein. Doch mit Nahles als Chefin werde es nicht besser, so die allgemeine Einschätzung. Nahles kommt nicht an, weder bei den eigenen Leuten noch beim Wähler, heißt es aus ihrem Umfeld. Ihre sehr mäßigen Beliebtheitswerte spiegeln diese Einschätzung. Nahles ist keine, der die Herzen der Menschen zufliegen - genau so jemanden bräuchte die SPD aber jetzt. Doch schon wieder die Vorsitzende auszutauschen, kann auch keine Lösung sein. Zumindest nicht sofort. Wer bitte, soll es denn auch machen? Heilsbringer stehen bei der SPD nicht vor der Tür. Und Olaf Scholz ist vermutlich einer der wenigen in der SPD, die finden, dass er es am besten kann. Von Personaldebatten wollte er an diesem Abend aber nichts wissen: Das führe nicht weiter.
Schonfrist für Nahles?
Bei der Suche nach Schuldigen an den erneuten Wahlniederlagen könnte Nahles daher eine Schonfrist bekommen - zumindest bis zum Parteitag im Dezember. Dann kann sie auch gleich die erwarteten Wahlniederlagen im Osten verantworten. Sie lässt bislang auch nicht erkennen, ihren Platz kampflos räumen zu wollen.
Der Ärger der Parteiführung richtet sich vielmehr gegen die ausgeprägte Egomanie in den eigenen Reihen - als extrem unsolidarisch wird etwa das Verhalten der ehemaligen Vorsitzenden, Gabriel und Schulz, wahrgenommen. So arbeitet Schulz an seinem Comeback als Fraktionschef, Gabriel fordert via Zeitungsinterviews, dass "diejenigen Verantwortung übernehmen, die den heutigen personellen und politischen Zustand in der SPD bewusst herbei geführt haben". Gabriel war von Nahles nach Bildung einer erneuten Großen Koalition ausgebootet worden.
Auch Kramp-Karrenbauer unter Druck
Diese nervöse Unruhe in Partei und Fraktion - in der SPD ist sie fast chronisch, für die CDU hingegen ist sie ein relativ neuer Zustand. Doch seit Angela Merkel den Vorsitz abgegeben hat, ist nichts mehr so, wie es lange war. Auch in der CDU wachsen die Zweifel an Annegret Kramp-Karrenbauer. "Packt die das?", fragt sich so mancher. Ihr Problem: Die Erwartungshaltung an sie ist hoch, ihr Gestaltungsspielraum jedoch gering. Sie braucht dringend Erfolge, um innerparteilich Autorität zu gewinnen - doch stattdessen muss sie nun erstmal die Verluste bei der Europawahl erklären. Kein guter Einstand für Kramp-Karrenbauer in ihrem ersten selbstverantworteten Wahlkampf. Gehen die drei Landtagswahlen im Herbst auch schlecht aus für die CDU, dürfte die Führungsdebatte offen ausbrechen.
Solange Merkel im Kanzleramt sitzt, hat Kramp-Karrenbauer keine Machtoption. Und je länger das so bleibt, desto geringer werden ihre Chancen aufs Kanzleramt - auch abzulesen an ihren sinkenden Umfragewerten. Kramp-Karrenbauer läuft also in gewisser Weise die Zeit davon, die sie nie hatte. Bleibt Merkel wirklich bis 2021 Kanzlerin, dürfte es für Kramp-Karrenbauer zu spät sein, mutmaßen Parteifreunde.
Überraschende Eigentore
Doch Kramp-Karrenbauer und ihrem Team unterlaufen auch strategische Ungeschicklichkeiten, über die Parteifreunde den Kopf schütteln und die SPD sich die Hände reibt. Sie sei zu wenig vernetzt, heißt es in der Fraktion zur Begründung. Vielleicht ist es auch der Versuch, es allen Flügeln in der Partei recht zu machen, unter besonderer Berücksichtigung des konservativen Merz-Lagers. So brauchten Partei und Fraktion im Streit mit der SPD um eine CO2-Steuer mehrere Anläufe für eine einigermaßen gemeinsame Position. Der Umgang mit der Fridays for future-Bewegung war zunächst unglücklich, unterschätzt hat die CDU auch den Protest gegen die Uploadfilter. Und auf die Youtuber-Kritik reagierte man im Konrad-Adenauer-Haus lange hilflos.
Oder Beispiel Grundrente: Statt nach der bewährten Merkel-Strategie zu handeln und sie als CDU-Idee zu verkaufen, ein eigenes Konzept vorzulegen und so das Thema abzuräumen, geht die Partei auf Konfrontationskurs zur SPD und schenkt den Sozialdemokraten damit ein Wahlkampfthema, mit dem sie im Osten punkten können.
Was bleibt?
Vorteil SPD also? Ganz sicher nicht, zumal die Sozialdemokraten im Umgang mit den Protestbewegungen auf der Straße und im Netz eine kaum bessere Figur machen als die CDU. Was bleibt also nach diesen Wahlen? Zwei sehr nervöse Parteien, unruhige Fraktionen, zwei Chefinnen mit Problemen, eine wackelige GroKo - und eine Kanzlerin, die das alles irgendwie nichts anzugehen scheint. Wie gut, dass wenigstens die CSU gerade still hält.