Bilanz Minister Müller Das Gewissen geht
Kaum einer war ungeduldiger, kaum einer so unbequem: Mit Entwicklungsminister Müller verabschiedet sich einer aus der Politik, der für die gute Sache nie locker ließ. Und dabei der Gesellschaft den Spiegel vorhielt.
Als der Bayer Gerd Müller 1994 in den Bundestag einzog, dachten in der Politik viele an den "Bomber", den Fußballer gleichen Namens. Heute denken sie beim Namen Gerd Müller in Berlin an das gute Gewissen der CSU. So nennen sie ihn gerne. Der Mann hat nie aufgehört, sich empören zu können: "Es kann nicht sein, dass zehn Menschen so viel besitzen wie 3,5 Milliarden der Ärmsten. Und das soll also so weitergehen?", fragt der Entwicklungsminister gern die Menschen, die ihm zuhören. Der Mann, der seit acht Jahren als Minister durch die Welt reist, redet, Freund und Feind gelegentlich verstört - mag es gern eindeutig: "Hunger ist Mord. Weil wir wissen, wie wir Hunger beseitigen könnten."
Er, der Sohn eines Bauern aus dem Allgäu, weiß es. Lange schon. Es fordert es von der Weltgemeinschaft ein. Aber auch von der eigenen Regierung. Kaum ein Minister ist ungeduldiger als Müller. Auch Unduldsamer, wenn er beim Gegenüber interessenlose Gleichgültigkeit erspürt.
Ungleiche Freunde
Fünf Jahre war Müller ab 1989 Europaabgeordneter. Damals lernte er Claudia Roth kennen. Ziemlich ungleiche Freunde. Bis heute aber mag er sie. "Und wissen Sie warum? Weil die das lebt, weil die was bewegen will. Das fehlt mir mittlerweile, dass wir was bewegen und verändern wollen. Warum bin ich denn sonst in der Politik?" So klingt der Mann. Wer mit Müller durch die Welt reist, erlebt einen Minister, der bewegen, verändern will. Geradeaus. Klartextmüller eben. Hingehen, wo es weh tut, sagt er gern dazu.
Vor zwei Jahren stand er in Kutupalong, im Rohingya-Flüchtlingslager in Bangladesch. Elend, Not, Tod und Vertreibung. Hier wohnen sie alle. "Ja, das ist fürchterlich und deshalb bin ich hier, weil ich die Aufmerksamkeit auf diese vergessene Flüchtlingskatastrophe lenken will", sagte er damals.
Danach ließ er noch im Flugzeug auf dem Weiterflug nach Indien die Entwicklungszusammenarbeit mit Myanmar stoppen. Dass so etwas außenpolitische Verwicklungen zur Folge hatte - einem wie Müller ist das egal. Er will, dass die Welt nichts vergisst, auch nicht die Verbrechen von Myanmar an den Rohingya.
Unbequem bis zum Nervigsein
Der Mann ist unbequem bis zum Nervigsein. Dass ein Minister mehr will als die Abgeordneten ist eher selten. Müller wollte immer mehr. Drückte aufs Tempo. Sein Kompass war und ist der Blick in den Spiegel. "Da denk ich an meinen Vater, der hat gesagt: Junge, Du musst immer jeden Tag in den Spiegel schauen können."
Er kann das wohl sagen. "Eine Welt ohne Hunger ist möglich", sagt er übrigens wo immer er auftaucht. "Wir wissen es. Ich weiß es. Ich bin der Sohn eines Bauern." 40 Milliarden US-Dollar pro Jahr und 2030 sei der Hunger besiegt, so der gelernte Kaufmann. "Warum werd' ich nicht gehört? Warum tut sich nichts? Warum lässt man das einfach so verplätschern?" Er versteht sie bis heute nicht. Diese manchmal so bräsige Welt, diese Nabelschau der Ungereisten, dieses reiche und satte Deutschland: "Deutschland. Wir sind ein Prozent der Menschheit. So wichtig, wie wir uns immer nehmen, sind wir jetzt auch nicht. Ein Prozent."
Kritiker allerdings sagen, dass dieser Entwicklungsminister manchmal auch etwas zu große Ideen entwickelt. Sein Marshallplan für Afrika beispielsweise. Schon der Name gefiel nicht jedem. Marshallplan mit Afrika sollte es besser heißen. Die vielen Milliarden, die er generieren sollte, flossen am Ende nicht wie erhofft. Es bleiben andere Dinge im Gedächtnis
Müllers Meisterstück
Gerade hat er das Lieferkettengesetz durchgekämpft. Gegen alle Widerstände bis zur Kanzlerin. Müllers Meisterstück. Zusammen mit Hubertus Heil. Seitdem ist er mit dem Arbeitsminister befreundet. Nicht der einzige Sozialdemokrat in Müllers Freundeskreis. "Man darf doch Freunde haben", ist Müllers Antwort. "Nicht reden - machen", das Müller-Motto. Der Mensch sollte seine Zeit nutzen, sagt er, weil der Mensch vergänglich sei. "Nimm Dich selber nicht so wichtig. Ich lebe ja im Allgäu. Und blicke, wenn ich heimkomme, auf die Alpen. Die stehen da seit Millionen von Jahren. Die stehen da auch in Millionen Jahren noch."
Er steht jetzt am Ende seiner politischen Laufbahn. Er will Platz machen für andere, deshalb gehe er. Als Minister sowieso, aber auch als Abgeordneter. Was er vermisst? Die Rebellen in der Politik. Die Widerworte. Immer wie alle sein - nicht seins. "Wenn alle gleich reden und denken, dann herrscht geistiger Stillstand." Das habe er als junger Abgeordneter damals von Heiner Geißler gelernt.
Was jetzt kommt? Ehrenamt sagt er. Das ist leicht untertrieben. Angela Merkel hat ihn vor einiger Zeit als künftigen Chef der UN-Organisation für industrielle Entwicklung vorgeschlagen. Da könnte er dann müllermäßig weiternerven. Im Dienste der Menschheit.