Politikwissenschaftler Langguth im Interview "Ein dritter Wahlgang ist keine Staatskrise"
Zu einer Demokratie gehöre es auch, dass um Mehrheiten gerungen werde, sagt der Politikwissenschaftler Gerd Langguth im Interview mit tagesschau.de. Ein dritter Wahlgang sei keine Staatskrise, dennoch sei der bisherige Verlauf der Bundespräsidentenwahl für die Regierungskoalition eine Ohrfeige.
tagesschau.de: Wie bewerten Sie bislang die Wahl des Bundespräsidenten?
Gerd Langguth: Christian Wulff fehlen viele Stimmen aus dem Regierungslager. Joachim Gauck bekam hingegen deutlich mehr Stimmen als Rot-Grün hatte. Er hat eine große charismatische Ausstrahlung, damit konnte er auch im konservativen Lager punkten. Und es geht bei der Wahl auch um einen Ohrfeigencharakter.
tagesschau.de: Sind die fehlenden Stimmen für Wulff also nur kleine Denkzettel?
Langguth: Das war sicher keine organisierte Ablehnung. Es waren einzelne Leute - aber eine enorme Zahl. Im zweiten Wahlgang waren einige vielleicht erschreckt, da bei einer Nichtwahl von Wulff die Autorität von Angela Merkel und Guido Westerwelle schwer erschüttert wird.
tagesschau.de: Ist das nicht schon durch das Ergebnis im ersten und zweiten Wahlgang der Fall?
Langguth: Doch. Aber nach der Wahl könnte es schnell heißen: "Der König ist tot, es lebe der König!" Die Wahl wird langsam vergessen, falls Wulff sich durchsetzt. Dennoch ist es eine erhebliche Äußerung von Unmut in der Regierungskoalition.
tagesschau.de: Warum gab es im Vorfeld der Wahl so hitzige Debatten?
Langguth: Wir leben in einer Zeit, in der die Politik keine Versprechungen machen kann. Es muss gespart werden. Die Schuldenbremse und die Euro-Krise haben nicht zur Beliebtheit der Politiker beigetragen. Und nun noch der Rücktritt von Horst Köhler. Das hat zu einer politischen Atmosphäre geführt, wie wir sie in der Bundesrepublik noch nicht hatten.
tagesschau.de: Wird das Amt des Bundespräsidenten dadurch beschädigt?
Langguth: Der künftige Bundespräsident wird sehr schnell eine Integrationsfunktion einnehmen. Die Deutschen lieben den Bundespräsidenten in der Funktion eines Ersatzmonarchen. Es war schon immer so, dass die Bundespräsidenten schnell Sympathien gewinnen konnten. Und selbst ein dritter Wahlgang ist keine Staatskrise. Es gehört zu einer Demokratie dazu, dass auch gerungen wird.
tagesschau.de: SPD und Grüne haben die Wahl des Bundespräsidenten strategisch genutzt, um die Regierung weiter unter Druck zu setzen. Dennoch wurde das Vorgehen gelobt, während Schwarz-Gelb kritisiert wurde, weil sie parteipolitisch gehandelt hätten. Ist das nicht paradox?
Langguth: Das ist immer auch ein Machtspiel. Ich hoffe, viele Bürger werden ein langes Gedächtnis haben. Denn es kann durchaus passieren, dass Rot-Grün wieder die Mehrheit in der Bundesversammlung haben wird. Und dann wird es spannend zu sehen, ob sie einen überparteilichen Kandidaten auftstellen.
tagesschau.de: In den vergangenen Tagen wurde viel über eine Direktwahl des Bundespräsidenten diskutiert. Was spricht dafür, was dagegen?
Langguth: Dafür spricht eine stärkere Identifizierung der Bevölkerung mit der Wahl. Doch vieles spricht dagegen. Das bisherige Verfahren hat sich bewährt. Und bei einer Direktwahl würde ein Präsident aus einem echten Parteienstreit hervorgehen - und nicht wie bislang aus einem "gebremsten". Es würde einen monatelangen Wahlkampf geben - und möglicherweise sogar einen zweiten Wahlgang mit Volksabstimmung. All dies würde die Integrationswirkung des Bundespräsidenten mindern.
Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de