Urteil zur Europawahl Karlsruhe kippt Drei-Prozent-Hürde
Die Chancen kleiner deutscher Parteien bei der bevorstehenden Europawahl sind enorm gestiegen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Drei-Prozent-Hürde für verfassungswidrig. Die Freude bei den Kleinen ist nun groß.
Die deutsche Drei-Prozent-Hürde bei Europawahlen ist verfassungswidrig. Das hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschieden. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass eine solche Sperrklausel gegen die Chancengleichheit der Parteien verstößt.
Die Richter entschieden mit knapper Mehrheit von fünf zu drei Stimmen, dass eine Sperrklausel weiterhin noch nicht nötig ist, "um die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments zu erhalten". Das Parlament sei zwar auf dem Weg, sich als institutioneller Gegenspieler der EU-Kommission zu profilieren, allerdings könne diese Entwicklung noch nicht mit der Situation im Bundestag verglichen werden, "wo die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung nötig ist".
Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle stellte weiter klar, dass gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr bestehe, "dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt". Die Stimme jedes Wählers müsse grundsätzlich denselben Zählwert und die gleiche Erfolgschance haben, sagte Voßkuhle.
"Alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben." Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien erfordere zudem, dass jeder Partei gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Ausnahmen seien nur durch gewichtige Gründe zu rechtfertigen.
Klage der kleinen Parteien
Gegen die Sperrklausel hatten 19 kleinere Parteien und mehr als 1000 Bürger geklagt. Zentrale Frage war, ob die in Deutschland geltende Hürde kleinere Parteien ungerechtfertigt benachteiligt. Die Kläger, darunter die Freien Wähler, die NPD und die Piratenpartei, warfen den im Bundestag vertretenen Parteien vor, mit der Festsetzung der Hürde eigene Interessen verfolgt zu haben.
Der Bundestag hingegen befand die Klausel für notwendig, um eine Zersplitterung im EU-Parlament zu verhindern.
Große Freude bei den Kleinen
Thorsten Wirth, Bundesvorsitzender der Piratenpartei Deutschland, zeigte sich "froh" über das Urteil: "Mit der heutigen Entscheidung des Gerichts ist gewährleistet, dass bei der kommenden Europawahl nicht wieder - wie vor fünf Jahren - ein erheblicher Teil der Wählerstimmen unter den Tisch fällt."
Erfreut zeigte sich auch die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP). "Das Urteil der Bundesverfassungsrichter stärkt die Demokratie", betonte ihr Vorsitzender Sebastian Frankenberger.
Der Chef der Linkspartei, die von Anfang an gegen die Drei-Prozent-Hürde war, Bernd Riexinger, schrieb im Kurznachrichtendienst Twitter: "Zugangshürden für Parlamente sind Demokratiehürden."
Hans-Christian Ströbele von den Grünen, der im Gegensatz zu seiner Fraktion im Bundestag ebenfalls gegen die Sperrklausel gestimmt hatte, sieht sich bestätigt. Das Karlsruher Urteil stärke die demokratische Stimmengleichheit, erklärte er.
Keine Auswirkung auf Bundestagswahl
Die Bundesregierung sieht nach dem Urteil keinen Grund, auch die Fünf-Prozent-Hürde für den Bundestag zu kippen. "Wir haben mit Sperrklauseln gute Erfahrungen gemacht", sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Bundesjustizminister Heiko Maas verwies darauf, dass die Karlsruher Richter Sperrklauseln grundsätzlich für zulässig erklärt hätten. Stabile Regierungen lägen auch im Interesse des Verfassungsrechtes, sagte der Justizminister.
De Maizière ergänzte, dass trotz Urteil das Wahlrecht nicht geändert werden müsse. Vielmehr werde eine von den Richtern für nichtig erklärte Bestimmung nicht angewandt. Die Vorbereitungen für die Europawahl am 25. Mai könnten planmäßig fortgesetzt werden.
SPD will extreme und rechte Parteien im EU-Parlament verhindern
SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann, sagte, das jetzige Urteil müsse vom Gesetzgeber akzeptiert werden. "Umso mehr kommt es nun darauf an, eine Zersplitterung politisch zu vermeiden. Wir wollen alles dafür tun, dass extreme und rechte Parteien aus Deutschland keinen Platz im neuen Europäischen Parlament haben. Wir werben deshalb im Europawahlkampf für einen Erfolg der demokratischen Parteien und ein starkes Ergebnis für Martin Schulz."
Dieser zeigte sich enttäuscht. "Ich nehme diese Entscheidung mit Respekt entgegen, auch wenn ich mir ein anderes Ergebnis gewünscht hätte", sagte der jetzige Präsident des EU-Parlaments und Spitzenkandidat für die europäischen Sozialdemokraten.
Eine "verpasste Chance"
CDU und CSU im EU-Parlament kritisierten das Karlsruher Urteil. Das Gericht habe die Chance verpasst, die neuen Realitäten in Europa anzuerkennen, erklärten der Vorsitzende und der Co-Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe, Herbert Reul und Markus Ferber. Die Legitimation der EU sei mit dem Vertrag von Lissabon schon sehr weit vorangeschritten. Es gebe in allen großen EU-Ländern aus guten Gründen Sperrklauseln. "Nun müssen wir mit den Urteil leben und auch damit, dass wir Splitterparteien und radikale Kräfte aus Deutschland im EU-Parlament haben werden. Das ist keine sehr angenehme Situation."
Fünf-Prozent-Hürde bereits 2011 gekippt
Bereits Ende 2011 hatte das Bundesverfassungsgericht die bis dahin geltende Fünf-Prozent-Hürde kassiert, weil es die Stimmengleichheit der Wähler und die Rechte kleiner Parteien verletzt sah. Daraufhin hatte der Bundestag die Drei-Prozent-Klausel festgelegt, über das die Karlsruher Richter nun zu entscheiden hatten.
Nach den Berechnungen des Bundeswahlleiters wären bei der Europawahl 2009 sieben weitere Gruppierungen aus Deutschland in das Europäische Parlament eingezogen, wenn es nicht die damals geltende Fünf-Prozent-Hürde gegeben hätte: Freie Wähler, Republikaner, Tierschutzpartei, Familien-Partei, Piraten, Rentner-Partei und die ÖDP (Ökologisch-Demokratische Partei).
(AZ: 2 BvE 2/13)