Kinderlähmung Warum es vermehrt zu Polio-Fällen kommt
Die Angst vor Polio war lange gering. Jetzt wurden in den USA und Großbritannien Viren nachgewiesen. Kommt die Kinderlähmung zurück? Wie gefährlich ist eine Infektion? Welche Rolle spielen Impfungen?
Noch vor wenigen Jahrzehnten gehörten die Kinderlähmung zu den am meisten gefürchteten Krankheiten. Doch eine weltweite Impfkampagne konnte die Virus-Erkrankung mit dem medizinischen Namen Poliomyelitis, kurz Polio, weitgehend eindämmen. In Deutschland wird seit den 1960er-Jahren breitflächig gegen das Poliovirus geimpft. Seitdem sind die Fallzahlen stark zurückgegangen. Der letzte bekannte Fall stammt aus dem Jahr 2000.
Doch nun mehren sich weltweit Meldungen, wonach Polioviren im Abwasser nachgewiesen wurden, unter anderem im US-Staat New York und in Großbritannien. Fachleute sind alarmiert, offenbar zirkuliert das Virus in der Bevölkerung. Der Bundesstaat New York rief den Katastrophenfall aus. Was sind die Gründe für die Zunahme der Polio-Fälle? Antworten auf wichtige Fragen im Überblick:
Kinderlähmung? War die nicht ausgerottet?
Die endgültige Ausrottung der Polioviren ist das erklärte Ziel der Weltgesundheitsorganisation WHO, doch noch ist es nicht erreicht. Stattdessen ist die Lage ernst: Im Jahr 2014 stellte die WHO eine "Gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite" bei der Kinderlähmung fest, die bis heute gilt. Dabei ist der ursprüngliche Wildtyp des Virus nicht das größte Problem: Fast alle Länder der Welt gelten aktuell als Wildpolio-frei, nur in Pakistan und Afghanistan gilt das Virus noch als heimisch.
Für deutlich mehr Fälle sorgen sogenannte Impfviren. Diese stammen von den abgeschwächten Viren ab, die bei den großen Impfkampagnen genutzt wurden, um die Menschen zu immunisieren. Die verwendeten Viren sind dabei so verändert, dass sie in den allermeisten Fällen keine Symptome, jedoch eine Immunantwort gegen das Virus auslösen.
Diese abgeschwächten Viren werden von den Geimpften jedoch über den Stuhl ausgeschieden und können durch Schmierinfektionen, also Berührungen, vor allem in Umgebung mit geringen hygienischen Standards auf andere Menschen übertragen werden. Solange es sich hierbei um abgemilderte Impfviren handelt, ist das normalerweise ungefährlich. Doch das Virus kann sich wieder verändern: Je länger das Virus in Bevölkerungsgruppen ohne Immunschutz kursiert, desto größer ist die Gefahr.
"Manche dieser Impfviren haben Veränderungen vorgenommen, sodass sie wieder ähnlich krank machen können, wie das ursprünglich der Fall war", erklärt Reinhold Förster, Professor für Immunologie an der Medizinischen Hochschule Hannover. "Dadurch hat man eine Gefahr, die aber nur für Menschen, die nicht geimpft sind, von Relevanz ist."
Um einer Infektion mit ehemaligen Impfviren vorzubeugen, wird in Deutschland seit 1998 vor allem ein Impfstoff verwendet, der inaktivierte Polioviren enthält, ein sogenannter Totimpfstoff.
Warum und wo treten jetzt wieder vermehrt Fälle auf?
Weltweit gab es in den vergangenen Jahren laut WHO Fälle von Lähmungen durch Polioviren, die von einem Lebendimpfstoff abstammen. Im Jahr 2020 waren es 1113, im vergangenen Jahr 688. Der Großteil davon wurde in Afghanistan und Pakistan, aber auch in afrikanischen Ländern wie Nigeria und dem Tschad registriert. In diesem Jahr wurden bisher allein 120 der Lähmungen im Jemen erfasst.
Doch auch in westlichen Ländern sind Fachleute alarmiert: In den USA wurden bei einem Patienten Polioviren nachgewiesen. Abwasseruntersuchungen zeigten, dass das Virus schon länger in der Region kursiert. Auch in London wurden die Viren in Abwasserproben nachgewiesen und in Israel gab es im März 2022 einen Polioausbruch, bei dem ein ungeimpftes Kind Lähmungen entwickelte. Sechs weitere steckten sich an, zeigten aber keine Symptome.
Als Grund für diese Ausbrüche sehen Experten die zu niedrigen Impfquoten: "Wir können das Virus eliminieren, wenn 95 Prozent der Bevölkerung immunisiert sind", so Immunologe Förster. "Wenn wir das deutlich unterschreiten, haben wir ein Problem."
Die amerikanischen und britischen Behörden riefen daher als Reaktion auf die Polioviren-Funde im Abwasser ihre Bevölkerung dazu auf, sich und ihre Kinder impfen zu lassen.
Wie zeigt sich eine Infektion mit Polioviren?
"Aktuell ist es sehr, sehr unwahrscheinlich, in Deutschland auf eine Polio-Erkrankung zu treffen", erklärt Jakob Maske, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. "Und unter Umständen würden wir sie auch gar nicht erkennen." Denn in den meisten Fällen verlaufe eine Infektion mit Polioviren recht harmlos: Erkältungssymptome wie Kopfschmerzen oder Magen-Darm-Beschwerden seien ein normaler Verlauf.
Etwa vier bis fünf Prozent der Betroffenen entwickeln laut Robert Koch-Institut jedoch eine Hirnhautentzündung. Bei 0,1 bis 1 Prozent zeigt sich mit Lähmungen die schwerste Form der Kinderlähmung. "Das können schwere Lähmungen der Extremitäten sein oder auch Atemlähmungen. Das kann bis zum Tod führen", erläutert Kinderarzt Maske. Die Lähmungserscheinungen beispielsweise an den Füßen oder Händen bilden sich zwar zurück, doch meist nur zum Teil. Die Folgen der Erkrankung bleiben ein Leben lang.
Eine Therapie, die spezifisch gegen Kinderlähmung wirkt, gibt es nicht. "Wenn es zu einer schweren Polioerkrankung kommt, die zu Lähmungen führt, kann man das nicht lindern. Und auch wenn man zuerst nicht so schwer betroffen ist, kann Polio Jahre später noch zu schweren Symptomen führen." Der Name Kinderlähmung führe dabei allerdings in die Irre: "Letztendlich ist die Erkrankung für alle Altersgruppen gleich gefährlich", sagt Maske. "Daher ist für alle der Impfschutz extrem wichtig."
Sind zusätzliche Impfungen nötig?
Bereits Säuglinge werden in Deutschland standardmäßig gegen Kinderlähmung geimpft. Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt insgesamt drei Impfdosen im ersten Lebensjahr, Frühgeborene erhalten eine weitere Impfung. Eine Auffrischung sollte als Schulkind erfolgen, meist im Alter von zehn bis zwölf Jahren.
Danach sollte ein langfristiger Schutz aufgebaut worden sein, laut STIKO ist normalerweise keine weitere Auffrischung notwendig. Vor Reisen in betroffene Gebiete kann jedoch eine weitere Impfung sinnvoll sein. "Wenn man die Regelimpfung einhält, dann haben die Kinder einen sehr, sehr guten Schutz und es ist nicht zu erwarten, dass sie an Polio erkranken", sagt auch Maske vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. Weitere Impfungen seien auch in der aktuellen Situation nicht notwendig.
Allerdings liegt die Impfquote bei Kindern der Geburtsjahrgänge 2008-2018 laut Robert Koch-Institut recht konstant bei nur 90 Prozent, in älteren Bevölkerungsgruppen zum Teil deutlich darunter.
Die Frage, ob eine Impfung gegen Kinderlähmung notwendig sei, diskutierten Kinderärztinnen und -ärzte regelmäßig mit den Eltern, so Kinderarzt Maske. "Manche Eltern denken, sie bräuchten die Kinderlähmungsimpfung nicht, da es die Krankheit bei uns nicht mehr gibt. Aber das ist ein Trugschluss." Wenn man die Impfquoten reduziere, könne es sehr schnell gehen, dass sich so ein Virus wieder verbreite - zumindest unter den Ungeimpften.
Auch Immunologe Förster warnt davor, die Gefahr eine Polio-Infektion zu unterschätzen: Viele Kinder seien in den 1950er- und 1960er-Jahren schwer erkrankt, sie mussten beatmet werden, sind zum Teil gestorben. "Da ist es wirklich erschreckend zu sehen, wie leichtfertig diese Gefahr wieder in Kauf genommen wird."