Kerzen und Blumen stehen und liegen in Berlin an einem Ort, an dem mutmaßlich ein Mann seine Ex-Frau erstochen haben soll.

Femizide in Deutschland Wenn der Schutz von Frauen versagt

Stand: 11.12.2024 07:15 Uhr

Jedes Jahr werden zahlreiche Frauen von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Im vergangenen Jahr waren es 155 in Deutschland. Für viele gehört Gewalt zum Alltag. Wie können Frauen besser geschützt werden?

Von Anne Grandjean, rbb

An einem Abend Ende August bekommt Rima A. einen Anruf, der ihr Leben verändern wird.  Am anderen Ende der Leitung ist ihr Cousin. "Ich habe gehört, Tante Norhan wurde erstochen", sagt er. Norhan A. ist nur knapp drei Jahre älter als Rima. Die beiden sind im gleichen Haus in Berlin-Neukölln aufgewachsen. "Für mich war sie wie eine Schwester", sagt sie heute.

Norhan A. wurde 36 Jahre alt. An diesem Abend im August wurde sie vor ihrer eigenen Haustür in Berlin-Zehlendorf getötet. Mutmaßlich von einem Mann, der ihr einst nahestand - ihrem Ex-Partner, dem Vater ihrer vier Kinder. Dieser soll ihr aufgelauert haben, sie verfolgt und auf sie eingestochen haben.

Eine Nachbarin macht an diesem Abend eigentlich nur einen Spaziergang. Dann hört sie Schreie. Sie sieht, wie Norhan aus dem Haus rennt, verfolgt von einem Mann mit Messer. "Er hat sie hingeworfen und hat ihr dann dreimal ins Herz gestochen", berichtet sie. Sie versucht ihn von Norhan abzubringen. "Ich habe mich beschützend auf sie draufgelegt, damit er nicht nochmal ans Herz kommt. Er hat dann irgendwann abgelassen, ist weggegangen und hat eine Zigarette geraucht."

Für die Berliner Staatsanwaltschaft ist dieser Fall ein "mutmaßlicher Femizid". Also die Tötung einer Frau, weil sie eine Frau ist. Gegen Norhans Ex-Mann hat sie Anklage wegen "heimtückischen Mordes aus niedrigen Beweggründen" erhoben und nennt "massive Eifersucht und übersteigertes Besitzdenken" als Motive. Eine Schuld letztlich feststellen kann aber nur das Gericht, das Verfahren steht noch aus. Norhans Ex-Mann will sich uns gegenüber nicht zu den Vorwürfen äußern. 

Gewalt in Beziehungen ist für viele Frauen Alltag

Das Lagebild "Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten" zeigt, dass 2023 155 Frauen von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet wurden. 180.715 Frauen wurden Opfer von Partnerschaftsgewalt. Das sind 5,6 Prozent mehr als im Vorjahr. 70 Prozent der Opfer häuslicher Gewalt sind Frauen. Knapp 90 Prozent der Täter sind Männer. Gewalt in und nach einer Beziehung gehört für viele Frauen zum Alltag.

Das galt auch für Norhan A.: Ihr Ex-Partner wollte nicht akzeptieren, dass sie sich von ihm getrennt hatte. Immer wieder stand er vor ihrer Tür, drohte ihr, wurde gewalttätig. Immer wieder erwirkte sie eine sogenannte Gewaltschutzverordnung. Damit darf sich ihr Ex-Mann eine begrenzte Zeitspanne lang ihr und ihrer Wohnung nicht mehr nähern. Sie hatte das alleinige Sorge- und Umgangsrecht mit den vier Kindern der beiden. Doch das hinderte ihn nicht daran, sie weiter zu bedrängen. Sie und ihre Kinder ziehen in eine vom LKA vermittelte Schutzwohnung. Doch es dauert nicht lange, bis ihr Ex-Mann die Adresse herausfindet.

Mehrmals wurde Norhans Ex-Mann deshalb verurteilt - zu Geldstrafen. Wegen Körperverletzung, Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz und wegen Bedrohung. Zuletzt weil er sie fast genau ein Jahr bevor er sie mutmaßlich tötete, anrief und drohte: "Ich werde dich umbringen, ich werde deine Seele herausnehmen."  

Die Berliner Anwältin und Autorin des Buchs "Gegen Frauenhass" Christina Clemm begleitet Fälle wie Norhans seit Jahren. "Soweit ich das verfolgt habe, hat sie alles versucht, um es richtig zu machen. Sie hat versucht zu fliehen. Sie hat versucht, staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie hat Anzeigen erstattet, sie hat eine Gewaltschutzverfügung gehabt und dennoch hat der Staat versagt", bewertet sie. "Ich würde sagen: genau dieser Fall ist eigentlich der Supergau, den man eben staatlicherseits unbedingt vermeiden muss."

Wie kann den Frauen besser geholfen werden?

Norhan A. hat alles getan, was in ihrer Macht lag, um sich zu schützen. Doch das hat nicht gereicht. Unsere Gesellschaft, unser Staat, versagen in Fällen wie diesem. Was kann getan werden, um Opfer besser zu schützen, um potenzielle Femizide zu verhindern?

Clemm plädiert für den Einsatz sogenannter multiinstitutionaler Fallkonferenzen, um frühzeitig gefährliche Situationen zu erkennen. "Das bedeutet, dass sich die verschiedenen Protagonistinnen zusammensetzen: Von der Betroffenen bis zur Beratungsstelle, das Jugendamt, womöglich ein Gericht, die Polizei", sagt die Anwältin. "Und dann überlegen sie: Wie ist dieser Fall einzuschätzen? Ist dieser Täter hochgefährlich? Und wenn man zu dieser Einschätzung kommt: Was können wir sinnvoll tun? Die Erfahrung zeigt, dass es tatsächlich Femizide verhindert."

Manche Bundesländer, wie Rheinland-Pfalz, nutzen diesen Ansatz schon lange. In anderen, Berlin etwa, ist er bislang wegen Datenschutzbedenken gescheitert.

Justizministerium legt Gesetzesentwurf vor

Auch das Bundesjustizministerium hat erst vergangene Woche einen Gesetzesentwurf veröffentlicht, der sich mit häuslicher Gewalt auseinandersetzt. Darin vorgesehen ist unter anderem eine elektronische Fußfessel für Gewalttäter. In Kombination damit sollen betroffene Frauen die Möglichkeit bekommen, ein Armband zu tragen, dass ihnen mitteilt, wenn ein Täter sich ihnen unerlaubterweise nähert.

Vorbild dafür ist Spanien: Hier wird dieses Fußfessel-Modell seit 2009 verwendet. Seitdem gab es in keinem der Fälle, in denen es eingesetzt wurde, einen Femizid.

Für Norhan A. kommen all diese Ansätze jedoch zu spät.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 06. Dezember 2024 um 18:23 Uhr.