Gewalt gegen Politiker "Ein wesentlicher Grund sind Ohnmachtsgefühle"
In einer Welt mit vielen komplexen Problemen fühlen sich viele Menschen nicht mehr von demokratischen Parteien repräsentiert, sagt Politikwissenschaftler Merkel. Gewalt gegen Politiker fungiere dabei als eine Art Selbstermächtigung.
tagesschau.de: Politiker mehrerer Parteien wurden jetzt in den vergangenen Tagen angegriffen. Sehen wir ein neues Stadium der Verrohung in unserer Gesellschaft?
Wolfgang Merkel: Mit dem Begriff neues Stadium sollten wir vorsichtig sein. Aber was wir sehen, ist ein kontinuierlicher Anstieg von Angriffen verbaler Art, Attacken aus den sozialen Medien. Und wir sehen tatsächlich auch eine Zunahme physischer Gewalt, insbesondere gegenüber den fast wehrlosen Politikern und Politikerinnen auf der kommunalen Ebene.
tagesschau.de: Woher kommt diese Bereitschaft, wegen politischer Uneinigkeit direkt zu Gewalt zu greifen?
Merkel: Ein wesentlicher Grund sind Ohnmachtsgefühle und das verbreitete Gefühl, nicht gehört zu werden, nicht zu zählen, nicht repräsentiert zu werden. Dann gibt es im Akt der Gewalt selbst so etwas wie einen Moment der Selbstermächtigung. Also: Ich kann was tun, ich zähle, ich bin handelndes Subjekt und nicht Objekt dunkler Politik.
Wolfgang Merkel ist Politikwissenschaftler und Demokratieforscher. Bis zu seiner Emeritierung war er Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Ein Schwerpunkt seiner Forschung liegt auf Krisen und Resilienz in der Demokratie.
"Neuer Treiber von Radikalisierung"
tagesschau.de: Wieso gibt es dieses Ohnmachtsgefühl?
Merkel: Das ist nicht ganz einfach zu sagen. Ein Faktor ist sicherlich, dass es in Deutschland, aber auch in ganz Europa, zunehmend Menschen gibt, die sich nicht mehr von den etablierten demokratischen Parteien vertreten fühlen. Ob das objektiv der Fall ist, ist gar nicht so relevant. Es ist das subjektive Gefühl, nicht zu zählen.
Rechtspopulistische Parteien bis hin ins rechtsradikale Milieu, also Parteien antidemokratischen Zuschnitts, sind in der Lage, sich in dieser Repräsentationslücke einzunisten. Die Konjunktur des Rechtspopulismus ist auch eine Antwort auf das Gefühl, nicht von den etablierten Parteien repräsentiert zu werden.
Wir haben einen neuen Treiber von Polarisierung, von Radikalisierung, von Verrohung im politischen Spiel: die Rechtsaußenparteien und insbesondere deren Ränder. Es sind nicht die offiziellen Politiker und Politikerinnen von AfD, FPÖ, Rassemblement National, und wie die Parteien alle heißen, sondern es sind dann deren Ränder, die sich aus diesem Milieu hin zur physischen Gewalt radikalisieren.
"Außerordentliche Menge komplexer Probleme"
tagesschau.de: Wo sehen Sie im Gefüge Rechtspopulismus und Gewalt die Ursache und wo die Wirkung?
Merkel: Die Ursache liegt darin, dass die etablierten demokratischen Politiker und Politikerinnen ganz offensichtlich nicht "liefern" und vermitteln können: Wir sind auch für euch da. Und dann kommt dazu: Wir leben gegenwärtig in Zeiten einer außerordentlichen Akkumulation schwierigster politischer Probleme, die zum Teil gar nicht, zumindest nicht allein nationalstaatlich gelöst werden können.
Denken Sie an die Klimafrage, die Migrationsfrage, die Corona-Pandemie oder Krieg. Es liegt nicht unbedingt an der Unfähigkeit der Politiker, sondern stärker im Charakter dieser Probleme. Der Charakter ist transnational, ihre Lösung braucht Zeit, bedarf der Koordination und Kooperation der Nationalstaaten untereinander.
Beim Zusammenwirken von einer außerordentlichen Akkumulation komplexer Probleme, die nicht hinreichend gelöst werden können, wird wahrgenommen: Die Politik liefert nicht, und für mich liefert sie überhaupt nicht. Das denken viele, zu viele in unserer Gesellschaft.
"Proteste, auch große, gab es immer wieder"
tagesschau.de: War das in den vergangenen Jahrzehnten anders?
Merkel: 1968 ist eine große Protestwelle über die westlichen Staaten hinweggeschwappt, und wir hatten das ja auch in Deutschland - Berlin und Frankfurt und anderen Städten. Proteste, auch große, gab es immer wieder.
Aber die Verbreitung des Gefühls der Ohnmacht, das ist etwas, das sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren kontinuierlich ausgedehnt hat. Damit will ich sagen: Es sind dann nicht nur kleinere Protestgruppen, die gegen die bestehenden Verhältnisse aufbegehren. Es ist ein gesellschaftlicher Trend.
Wir erleben einen kontinuierlichen Drift in die Polarisierung. Und hier sind eben nicht nur rechtsradikale Parteien die Treiber, sondern es gibt eine alltägliche Verrohung in den sozialen Netzwerken. Je radikaler man etwas formuliert, umso größer wird die Followerzahl. Das ist ein verhängnisvoller Algorithmus, der Polarisierung zusätzlich treibt.
Wir sehen heute Enttäuschungseffekte, deutlicher das Gefühl: Ich werde nicht gehört, dagegen muss ich wohl auch etwas machen. Und das äußert sich nicht so sehr in politischer Organisation oder in Protestwellen, sondern häufig an den Rändern auch in Gewalt. Das ist ein wichtiger demokratischer Unterschied.
Einige Soziologen sagen, es gebe eigentlich keine Polarisierung und Spaltung. Ich denke, die Stärke des Rechtspopulismus und das tagtägliche Geschehen dementiert diese Positionen. Wir haben eine Polarisierung, wir können sie sogar messen. Und sie ist nicht vereinzelt in Deutschland oder in Sachsen und Thüringen, sondern das ist ein Phänomen unserer westlichen Demokratien geworden. Und deshalb sollten wir nicht glauben, dass das morgen verschwunden ist.
"Radikalisierung insbesondere junger Männer"
tagesschau.de: Beim Angriff gegen den SPD-Europapolitiker Matthias Ecke in Dresden sind vier junge Männer im Alter von 17 und 18 Jahren tatverdächtig. Sehen wir gerade auch bei jungen Menschen eine Radikalisierung?
Merkel: Zu dem konkreten Fall kann ich nichts sagen. Da wissen wir alle noch viel zu wenig. Was wir aber sehen, ist, dass die jungen Menschen keineswegs mehr automatisch wie in vergangenen Jahrzehnten im Grunde die progressiven, treibenden Kräfte unserer Gesellschaft sind. Wir sehen einen Rechtsdrift und manchmal auch Radikalisierung junger Menschen, insbesondere junger Männer. Das gilt für die USA und Westeuropa gleichermaßen.
tagesschau.de: Die Innenminister der Länder fordern jetzt Strafrechtsverschärfungen. Sehen Sie darin eine hilfreiche Maßnahme?
Merkel: Im Grunde ist das zunächst ein ebenso ritueller wie hilfloser Versuch. Und es ist auch nicht unbedingt der Glaubwürdigkeit dieser politischen Rufer dienlich, wenn sie das bei all diesen Gewaltakten wie eine Litanei herunterbeten. Litaneien schaden der Glaubwürdigkeit der Politik.
Ich glaube, wir haben hinreichend strafrechtliche Möglichkeiten, Gewalttaten zu ahnden und zu verfolgen. Das genügt aber nicht. Das ist schmales, administrativ bürokratisches Denken, im Übrigen auch nicht besonders demokratisch, zu glauben: Immer härtere Gesetze schaffen einen Lösungsweg. Denn irgendwann wachen wir dann auf und leben in einer selbst fabrizierten, illiberalen Gesellschaft.
Schärfere Gesetze ändern nichts an der Radikalisierungsbereitschaft, nichts am Misstrauen gegenüber den Politikern und unter den Menschen selbst. Der horizontale Vertrauensverlust ist es besonders, der unsere Gesellschaften plagt.
"Bereit sein, in Debatten und Diskurse zu gehen"
tageschau.de: Welche Schritte braucht es dann als demokratische Gesellschaft?
Merkel: Wir müssen bereit sein, in Debatten und Diskurse zu gehen. Tag für Tag über Milieus hinweg. Wir müssen unsere Diskurse öffnen. Es genügt nicht, jedes Mal zu sagen: Ich bin im Besitz der richtigen Position, ich bin im Besitz der Wahrheit, ihr seid die Fake-Produzenten. Ihr seid diejenigen, die nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen - und als Krönung: Ihr seid Faschisten, mit euch reden wir nicht. Das ist der falsche Weg.
Toleranz ist etwas Schmerzhaftes. Und wir müssen unterscheiden, wer Gewalttäter, rechter Ideologe und wer Mitläufer oder Protestwähler ist. Bei Ersteren brauchen wir keine Toleranz zu üben. Aber bei Letzteren sehr wohl. Die Idee ist eher eine diskursive Inklusion und keine verbale Exklusion.
tagesschau.de: Gibt es aus Ihrer Sicht noch ein Zurück aus dieser Entwicklung?
Merkel: Natürlich. Geschichte geht nicht immer in eine Richtung. Aber den politischen Entscheidern muss aufgetragen werden, dass sie mindestens zwei Punkte erfüllen: Sie müssen effiziente Lösungen für die gravierenden Probleme präsentieren und diese Lösungen müssen fair sein. Sie müssen also vom überwältigenden Teil der Bevölkerung als faire Lösung verstanden werden können und es tatsächlich sein. Sonst haben wir wieder eine Situation, in der gesagt wird: Das sind wieder die Privilegierten, die Abgehobenen, die Politiker und Politikerinnen da oben.
Wir sollten Geschichte und die gesellschaftliche Entwicklung mehr in Zyklen als in klaren, abschüssigen oder aufsteigenden Ebenen verstehen. Was wir aber gegenwärtig schon sehen, ist ein Schrumpfen von vernünftigen Diskursen, die wir in unserer Gesellschaft haben - in der Außen- wie Innenpolitik. Da setzte sich ein "Freund-Feind-Denken" durch. Das ist der falsche Weg. Es geht gerade in trüben Zeiten um Vernunft und kommunikatives Handeln: in der Politik, der Gesellschaft und Lebenswelt.
Das Gespräch führte Belinda Grasnick.