Passanten gehen durch die Innenstadt von Suhl in Thüringen.

Jahresbericht deutsche Einheit Vielen Menschen fehlt das "Wir-Gefühl"

Stand: 25.09.2024 20:04 Uhr

Auch 35 Jahre nach dem Mauerfall bleibt die Beziehung zwischen Ost und West kompliziert. Im Osten gibt es immer noch viel Nachholbedarf. Union und BSW geht der Bericht zur deutsch-deutschen Beziehung nicht weit genug.

Von Dietrich Karl Mäurer, ARD Berlin

Ost und West - frei, vereint und unvollkommen. Die unkonventionelle Überschrift für den mehr als 170 Seiten starken Bericht erklärt der Ostbeauftragte Carsten Schneider wie folgt: "Ich wollte hier nicht eine Propagandanummer machen" - nach dem Motto, alles sei super.

Denn auch 35 Jahre nach dem Fall der Mauer gibt es zwischen West und Ost große Unterschiede - etwa beim Einkommen oder der Lebenserwartung oder den immer noch geringeren Vermögen. Letzteres führte dazu, "dass man in Krisen ganz besonders sensibel ist, weil eher Rücklagen fehlen, Wohneigentum seltener ist", erklärte Schneider.

Viele Ostdeutsche fühlen sich als Bürger zweiter Klasse

Als weiteren wichtigen Unterschied nennt Schneider die Frage der Teilhabe in der Gesellschaft. "In der Wirtschaft sind nur vier Prozent der Positionen, die entscheiden, durch Ostdeutsche besetzt. 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind ostdeutsch." 

Wohl auch deshalb fühlen sich - wie es in dem Bericht heißt - viele Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse. Dennoch, so meint Schneider, Deutschland sei ein anderes Land als 1989/90. Auch Westdeutschland habe sich verändert. "Miteinander zusammenkommen, um dieses Land zu gestalten, ist weiter fortgeschritten, als vielerlei und oft bemerkt wird."

Die Erfolge der AfD bei den jüngsten Landtagswahlen schaden aus Sicht von SPD-Mann Schneider dem Ansehen Ostdeutschlands. Er befürchtet, dass die Bereitschaft von Westdeutschen, in den Osten umzuziehen, sinkt und dass Investoren abgeschreckt werden.

Große Mehrheit hat ähnliche Wünsche für Gesellschaft

In welcher Gesellschaft die Deutschen leben wollen, auch das beleuchtet der Bericht, zu dem die Ergebnisse des Deutschland-Monitors gehören. Die Jenaer Politikwissenschaftlerin Marion Reiser erläutert, dass die repräsentative Umfrage ergeben hat, dass sich die meisten eine ganz ähnliche Gesellschaft wünschen.

"So möchte wirklich die übergroße Mehrheit - teilweise deutlich mehr als 80 Prozent - in einer Gesellschaft leben, in der freiheitlich demokratische Grundrechte und Grundwerte gewährleistet sind" - wie etwa die Gleichberechtigung der Geschlechter, Chancengleichheit, ein friedliches Zusammenleben der Religionen, ein gelebtes soziales Miteinander, soziale Gerechtigkeit, aber auch das Leistungsprinzip.

Bei den Themen Klima und Migration offenbarten sich jedoch erwartungsgemäß sehr unterschiedliche Vorstellungen, ja sogar Ablehnung. Skepsis und Ablehnung seien in Ostdeutschland demnach weiter verbreitet, so Reiser. "Insbesondere bei Älteren, die in der ehemaligen DDR sozialisiert sind."

Gesellschaftlicher Zusammenhalt wichtig für Demokratie

Die Umfrage zeigt auch, dass einem Großteil der Menschen in Deutschland ein gesellschaftliches "Wir-Gefühl" fehlt. Nur 14 Prozent glauben, dass es in unserer Gesellschaft einen großen Zusammenhalt gibt und nur ein Viertel der Befragten, dass sich Mitmenschen gegenseitig unterstützen.

Auch hier gibt es Unterschiede zwischen Ost und West. Im Osten wird ein solches "Wir-Gefühl" durchweg seltener wahrgenommen als im Westen.

Der Ostbeauftragte Schneider, der aus Erfurt stammt, leitet daraus ab, diejenigen mehr zu unterstützen, die etwa in Vereinen Verantwortung übernehmen. Denn ein stärkerer gesellschaftlicher Zusammenhalt bleibe wichtig, um Demokratie zu schützen und die Zukunft gemeinsam zu gestalten.

Kritik am Amt des Ostbeauftragten

Von der Union im Bundestag kommt unterdessen Kritik am Amt des Ostbeauftragten der Bundesregierung. Sepp Müller, der stellvertretende Fraktionschef, findet: "Wir als CDU-CSU-Bundestagsfraktion sagen, wir brauchen keinen Reiseonkel. Wir brauchen einen Minister, der sich mit starker Stimme für die Ostbelange am Kabinettstisch durchsetzen kann." Außerdem brauche es eine Industriepolitik, so dass Unternehmen und gut bezahlte Arbeitsplätze in Deutschland und insbesondere in Ostdeutschland bleiben würden.

Auch Sahra Wagenknecht, die Gründerin der nach ihr benannten Partei, teilt aus. Der Beauftragte und der Bericht dienten der politischen Schönfärberei.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 25. September 2024 um 14:23 Uhr.