Die Angeklagte Irmgard F. wird zu Beginn des Prozesstages in den Sitzungssaal gebracht. (Archivfoto vom 20.12.2022)

BGH urteilt über KZ-Sekretärin Eine historische Entscheidung

Stand: 20.08.2024 04:24 Uhr

Vielleicht ist es das letzte Urteil in einem KZ-Prozess: Der Bundesgerichtshof urteilt heute über den Fall einer Sekretärin im KZ Stutthof. Die heute 99-Jährige war gegen ihre Verurteilung im Jahr 2022 vorgegangen.

Von Max Bauer, ARD-Rechtsredaktion

Als die Verhandlung am 31. Juli schon fast zu Ende war, wurde es noch einmal ganz still im bis auf den letzten Platz besetzten großen Sitzungssaal des ehemaligen Reichsgerichtsgebäudes in Leipzig. Vor dem 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) verlas die Rechtsanwältin Christine Siegrot eine schriftliche Aussage ihres Mandanten, des 96-jährigen Nebenklägers Abraham Koryski, der heute in Haifa in Israel lebt.

Koryski hatte das Konzentrationslager Stutthof überlebt. Er hatte eigentlich nach Leipzig zur Verhandlung des BGH anreisen wollen. Aus gesundheitlichen Gründen musste der Holocaust-Überlebende aber auf die Reise verzichten. In seinem zweiseitigen Statement beschreibt er, dass ihm vom Beginn seiner Gefangenschaft in Stutthof an klar war, dass es sich um "ein monströses Vernichtungslager" handelte: "Von dem Moment an, in dem ich das Lager betrat, empfing mich der Geruch des Todes, der Geruch des Krematoriums, dessen Schornstein für alle sichtbar und dessen Gestank jede Nase ausgesetzt war. Jede Nase, auch die Nasen derjenigen, die sich in den Verwaltungsbüros befanden." 

Der Tod lauerte hinter jeder Ecke

Abraham Koryski betont in seiner Stellungnahme, dass diejenigen, die behaupten, sie hätten nur Anweisungen befolgt, seiner Meinung nach "Komplizen der Vernichtungsmaschinerie" gewesen seien. Gerade diejenigen, die in der Verwaltung des Lagers gearbeitet hätten, könnten nicht sagen, sie hätten nichts gewusst: "Sie haben sogar vor allen anderen und vor uns gewusst, was passieren würde."

Je näher jemand dem Lagerkommandanten stand, desto mehr sei er involviert gewesen, habe gewusst, "wer sofort sterben muss und wer davor deportiert wird", so der Stutthof-Überlebende.

Die Angeklagte Irmgard F. hatte nahe am Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe im KZ Stutthof gearbeitet. Sie war Stenotypistin in dessen Büro und organisierte den gesamten Schriftverkehr des Lagerkommandanten und seines Adjutanten.

 

Kein Schuldeingeständnis der Angeklagten

Ende 2022 hatte das Landgericht Itzehoe die heute 99-jährige Irmgard F. zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt, wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen. Im Prozess vor dem Landgericht hatte Irmgard F. sich kurz zu den Vorwürfen gegen sie geäußert. Sie sagte, es tue ihr leid, was alles geschehen sei, und dass sie es bereue, dass sie zu der Zeit in Stutthof war. Ein Eingeständnis ihrer persönlichen Schuld war das nicht, denn Irmgard F. hat ihre Verurteilung nicht akzeptiert und Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt.

Sie übernahm also keine Mitverantwortung für die Massenmorde im KZ Stutthof, beispielsweise für den Mord am Vater von Josef Salomonovic. Salomonovic war drei Jahre alt, als er 1941 mit seiner jüdischen Familie deportiert wurde. Als Kind überlebte er acht Konzentrationslager, auch das KZ Stutthof bei Danzig. Dort wurde im September 1944 der Vater von Josef Salomonovic ermordet - heimtückisch mit einer Giftspritze, als er auf der Krankenstation des KZ Stutthof um Medikamente gebeten hatte. Der Mord wurde, wie oft in den Konzentrationslagern, genau dokumentiert. Auf einem Formblatt, das wahrscheinlich auch durch die Hände von Irmgard F. ging.

Wusste Irmgard F. von den Massenmorden?

Im Prozess vor dem Landgericht Itzehoe sah es das Gericht als erwiesen an, dass Irmgard F. im Büro des Lagerkommandanten eine wichtige Rolle innehatte. Sie habe die Arbeit des Kommandanten, also auch die Massenmorde im Lager, unterstützt und gefördert. In der Revisionsverhandlung vor zwei Wochen hatte der Verteidiger von Irmgard F. das angezweifelt.

Er plädierte vor dem 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs, der in Leipzig sitzt, auf Freispruch. Seine Argumentation: Irmgard F. sei nicht mit SS-Wachmännern in den Vernichtungslagern der Nazis vergleichbar. Ihre Tätigkeiten in der Schreibstube des KZ seien neutrale Handlungen gewesen ohne hinreichende Bezüge zu den Mordtaten.

Das KZ Stutthof: ein Vernichtungslager?

Eine Frage kam in der Verhandlung immer wieder auf: War das KZ Stutthof ein "reines Vernichtungslager"? Und kann man überhaupt zwischen Vernichtungslagern und anderen Konzentrationslagern der Nazis unterscheiden? Der Verteidiger von Irmgard F. wollte mit dieser Unterscheidung offenbar Zweifel am Vorsatz der Angeklagten schüren. Da Stutthof aus seiner Sicht kein "reines Vernichtungslager" gewesen sei, könne man nicht sagen, Irmgard F. habe von Massenmorden gewusst und diese unterstützt. Jedenfalls sei das nicht zu beweisen.

Die Rechtsanwälte der Überlebenden widersprachen und wiesen darauf hin, dass das KZ spätestens ab 1944 als Vernichtungslager bezeichnet werden müsse. Im Lager Stutthof gab es ab diesem Zeitpunkt eine Gaskammer, schon zuvor wurden Gefangene erschossen oder erhängt. Und es gab organisierte Transporte ins Vernichtungslager Auschwitz. Aus diesen historisch nachweisbaren Gründen wurden von Nebenkläger-Anwälten angezweifelt, ob man überhaupt Vernichtungslager und andere Lager unterscheiden könne. Denn alle KZ hätten der massenhaften Ermordung von Menschen gedient. Dass in vielen Lagern die Gefangenen erst durch Zwangsarbeit ausgebeutet wurden, ändere nichts am Charakter des Lagersystems als Mordmaschinerie. 

Schaltstelle zwischen Leben und Tod

Der Vertreter der Bundesanwaltschaft betonte, dass Irmgard F. Beihilfe zum Mord in über 10.000 Fällen begangen habe. Irmgard F. habe im KZ Stutthof als Sekretärin des Lager-Kommandanten eine einzigartige Stellung innegehabt. Sie habe an der Schaltstelle gearbeitet, wo über Leben und Tod der KZ-Gefangenen entschieden wurde. Sie haben von den Morden gewusst und die Mordbefehle durch ihre Arbeit unterstützt.

Hans-Jürgen Förster, Rechtsanwalt von Nebenklägern in dem Prozess, sagte, dass man Irmgard F. als "Chefsekretärin des Kommandanten" bezeichnen könne. Sie sei auch die einzige Stenotypistin in dessen Büro gewesen. Sie habe den gesamten Schriftverkehr erstellt und dadurch dafür Sorge getragen, dass die Befehle des Lagerkommandanten in der "Hölle von Stutthof" Wirkung hatten. Irmgard F. habe durch ihre zentrale Position von den Verbrechen im Lager gewusst. Von ihrem Büro aus habe sie auch gesehen, was aus den Befehlen geworden sei. Sie habe einen Blick über das Lager gehabt, habe den zentralen Appellplatz und die Gaskammer gesehen und den Geruch des Krematoriums wahrgenommen. 

Irmgard F., circa 1944

Als junge Frau arbeitete Irmgard F. im KZ Stutthof als Sekretärin.

"Gerechtigkeit hat kein Verfallsdatum"

Mehr als 60.000 Menschen, vor allem Juden, wurden in Stutthof ermordet. Rechtsanwalt Hans-Jürgen Förster betont, wie wichtig das Verfahren für das Erinnern an den Holocaust sei: "Mord verjährt nicht und die Gerechtigkeit hat kein Verfallsdatum, sowohl für die Täter als auch für die Opfer."

In seiner schriftlichen Stellungnahme für die Verhandlung betont Nebenkläger Abraham Koryski: "Für mich ist es auch heute noch wichtig, dass die Schuldigen vor Gericht gestellt werden, Verantwortung geklärt und mir die Möglichkeit gegeben wird, Zeugnis abzulegen. Ein Zeugnis davon, was ich mit meinen Augen gesehen und an meinem Körper erlitten habe. Im Namen all derer, die nicht überlebt haben, ist es mir wichtig, dass der Holocaust nicht geleugnet oder verharmlost wird."

Vielleicht das letzte Urteil in einem KZ-Prozess

Das heutige Urteil des Bundesgerichtshofs ist vielleicht das letzte in einem KZ-Prozess in Deutschland. Verfahren wie das gegen Irmgard F. wurden möglich, weil der Bundesgerichtshof die Konzentrationslager mittlerweile als Teil einer "industriellen Tötungsmaschine" ansieht. Auch unterstützende Tätigkeiten können rechtlich als Beihilfe zum Mord gewertet und verurteilt werden.

In der Verhandlung vor dem BGH wurde erneut deutlich, dass Irmgard F. in der Organisation des KZ Stutthof keine unbedeutende Rolle innehatte. Ob der Bundesgerichtshof ihr Handeln als Beihilfe zum zehntausendfachen Mord wertet, wird sich nun zeigen.

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