Boris Pistorius vor Soldaten und einem Panzer der Bundeswehr in Litauen
interview

Soziologe über Zeitenwende "Das sorgt für Frust"

Stand: 20.06.2024 09:16 Uhr

Die Bundesregierung dürfe in der Zeitenwende nicht die Vision für eine "friedlichere Welt" vernachlässigen, sagt der Soziologe Hartmut Rosa. Die derzeitige Kommunikation habe schon jetzt fatale Folgen.

tagesschau.de: Bund und Länder beraten heute über die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands. Bereits vergangene Woche hat Verteidigungsminister Boris Pistorius die Idee eines neuen Wehrdienstes vorgestellt. Ist die Zeitenwende in Politik und Gesellschaft angekommen?

Hartmut Rosa: Zumindest anders als gedacht. So wie die "Zeitenwende" im Moment kommuniziert und praktiziert wird, hat das fatale Konsequenzen. Das zeigen die jüngsten Wahlergebnisse ebenso wie Erhebungen zum mentalen Gesundheitszustand, Erschöpfung und Einsamkeitsgefühlen. Die Werte haben sich alle verschlechtert.

Manfred Segerer
Hartmut Rosa

Hartmut Rosa nennt sich selbst Beschleunigungsforscher. Der Soziologe leitet das Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und lehrt an der Universität Jena.

tagesschau.de: Sie kritisieren schon den Begriff Zeitenwende an sich. Warum ist der für Sie problematisch?

Rosa: Kriege gab es auch schon vor dem Ukraine-Krieg. Nehmen Sie Afghanistan, Irak oder Jugoslawien. Aber trotz Kriegen, Seuchen, Piraterie und Folter lautete in der Vergangenheit die Überzeugung immer: Wir müssen es schaffen, wir können es schaffen und wir werden es schaffen, diese zu überwinden, eine friedlichere und gerechtere Weltordnung zu schaffen.

Mit der Zeitenwende hat Olaf Scholz deutlich auf den Punkt gebracht, dass wir diese Hoffnung aufgeben sollten. Die Zukunft sei Krieg. Das hat etwas Tiefgreifendes gemacht mit der Bevölkerung.

"Brauchen eine Geschichte mit Zukunftshorizont"

tagesschau.de: Was meinen Sie damit?

Rosa: Nehmen Sie die täglichen Nachrichten. Boris Pistorius sagt, bis in fünf Jahren müssen wir in der Lage sein, gegen Russland einen Krieg zu führen. Damit sagt er der Bevölkerung, ihre bisherige Annahme sei eine Illusion gewesen. Ihre Kinder werden später einmal in einer schlechteren Welt leben als die Eltern.

In der politischen Bildersprache ist die Zukunft heute ein einziger Abwehrkampf auf einer abschüssigen Bahn nach unten. Gegen die Russen. Gegen den Klimawandel. Gegen den wirtschaftlichen Niedergang. Gegen die AfD. Gegen die Migration. Das sorgt für Hoffnungslosigkeit und Wut.

tagesschau.de: Was wäre die Alternative?

Rosa: Wenn wir wissen wollen, wie es den Menschen geht, dürfen wir nicht fragen, was sie haben, sondern, wohin sie gehen. Menschen nehmen ihr Leben als Bewegung wahr. Und da gibt es derzeit die Wahrnehmung einer Bewegung auf eine einzige dunkle Wand aus Kriegen, Seuchen und Klimakatastrophen zu.

Die Politik muss deshalb die Aufgabe der Steigerung von Verteidigungsanstrengungen anders einbetten. Es braucht eine Geschichte mit Zukunftshorizont. Sie kann durchaus sagen: Wir brauchen eine stärkere Bundeswehr, um uns im Zweifelsfall auch verteidigen zu können, und vielleicht auch ein allgemeines Dienstjahr. Das kann aus allen möglichen Gründen sinnvoll sein.

Aber langfristig muss sie eine neue Friedensordnung schaffen wollen. Wenn man der Bevölkerung nur sagt, die Zukunft wird Rüstung und Krieg sein, dann kann das nicht klappen.

"Politik ist in Abwehrkämpfen erstarrt"

tagesschau.de: Die SPD inszeniert Olaf Scholz seit Monaten als "Friedenskanzler" und hat sein Gesicht groß mit dem Wort "Frieden" im Europawahlkampf plakatiert. Warum hat das nicht funktioniert?

Rosa: Weil es nicht reicht. Es bedarf einer Vision, wie es in der Zukunft auch wieder besser werden kann, wie wir am Traum oder Ziel einer friedlicheren Welt arbeiten können, sei es auch noch so schwer.

Einer solchen Vision stehen aktuelle Waffenlieferungen überhaupt nicht im Weg. Im Gegenteil: Scholz würde für diese wahrscheinlich viel mehr Akzeptanz finden, wenn er erkennen ließe, dass er am Ziel einer gesamteuropäischen und sogar globalen Sicherheitsarchitektur allen derzeitigen Schwierigkeiten und Rückschlägen zum Trotz festhält.

tagesschau.de: Sie haben schon kurz nach dem Ausrufen der Zeitenwende die Sorge geäußert, diese könnte andere Krisen überlagern. Sehen Sie sich bestätigt? 

Rosa: Die Politik ist in Abwehrkämpfen erstarrt. Wir sprechen nicht darüber, Fluchtgründe zu minimieren, sondern darüber, Migranten aus dem Land zu halten. Und die Russen. Und den Einfluss Chinas.

Dabei braucht die globalisierte Welt kollektive Lösungen - gegen die ökologische Krise, gegen Krankheiten wie Covid-19, gegen globale Ungleichheit. Wer sich derart stark auf seine Kriegstüchtigkeit konzentriert, kann andere Krisen nicht lösen. Mit dem Zurückschrauben der Klimaziele und einem möglichen Aussetzen des Lieferkettengesetzes erleben wir bereits Rückschritte an anderen Fronten.

"Diskurs wurde zugespitzt"

tagesschau.de: Dennoch kann die Politik den Schutz der eigenen Bevölkerung und die Zukunft der Ukraine nicht hintanstellen.

Rosa: Das soll sie auch nicht. Allerdings wurde der Diskurs auf die Frage zugespitzt: Bist Du für die Ukraine oder für Russland? Das ist hanebüchener Unsinn - und ein Problem. In Thüringen kämen AfD und BSW laut einer aktuellen Umfrage auf eine Sitzmehrheit im nächsten Landtag. Das ist beunruhigend.

Ich persönlich will unbedingt, dass wir die Ukraine unterstützen. Aber wenn Unterstützung nur noch heißt, immer weiter Waffen zu liefern, aber nicht zu verhandeln, dann ist das absurd. Am Ende wird wahrscheinlich eine Lösung stehen, die für beide Seiten schmerzhaft ist. Es kommt aber darauf an, wenigstens diese Lösung so klug und vorausschauend wie irgend möglich zu gestalten. So dass keine Grundsteine für weitere blutige Konflikte gelegt werden.

tagesschau.de: Warum ist eine Vision so wichtig, wo die aktuellen Krisen doch ganz konkret sind?

Rosa: In den Sozialwissenschaften neigen wir dazu, vor allem auf den Besitz und das Einkommen von Menschen zu schauen; auf die Gesundheitsversorgung, ihre Wohnsituation. Und dann stellen wir eine seltsame Diskrepanz fest. Die Leute sagen sehr oft, sie hätten eigentlich alles, ihnen gehe es gut, nur leider sind sie total unzufrieden. Das sind sozusagen Wutbürger.

Unsere Wahrnehmung, ob wir in guten oder schlechten Zeiten leben, hängt nämlich weniger davon ab, was wir haben, sondern eben davon, worauf wir uns zubewegen.

"Langfristige Entwicklung, die sich jetzt verstärkt"

tagesschau.de: Nehmen Sie diese Effekte auch in anderen Ländern wahr?

Rosa: Das zentrale Versprechen der Moderne gilt nicht mehr. Die eigenen Kinder werden es nicht besser haben als man selbst. Das ist weltweit so. Rund 70 Prozent der Eltern in Korea, China, Lateinamerika oder den USA sehen das so. Es herrscht Niedergeschlagenheit. Die Daten für die psychische Gesundheit bei Jugendlichen sind global katastrophal.

tagesschau.de: Sie führen das auch auf die Politik zurück?

Rosa: Es ist eine langfristige Entwicklung, die sich jetzt verstärkt. Die Zahl der einsatzbereiten Atomwaffen steigt wieder, sogar dramatisch. Solche Nachrichten treiben auch junge Menschen um. Und wer wie Frankreichs Präsident Macron das Bild erzeugt, dass wir bald Bodentruppen in die Ukraine schicken, braucht sich nicht wundern, wenn Leute dann Parteien wie AfD und BSW oder deren französisches Pendant wählen.

Vielleicht geht es gerade nicht ohne Waffen. Aber eine verantwortungsvolle Politik muss gleichzeitig auch auf Abrüstung setzen. Die Lösung liegt nicht in der Frage: "Taurus" - ja oder nein? Sondern: Wie sieht eine denkbare Zukunft aus?

Das Gespräch führte Thomas Vorreyer, tagesschau.de.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 12. Juni 2024 um 22:25 Uhr.