Mahnmale für NS-Opfer 100.000 Stolpersteine
Man findet sie in vielen deutschen und europäischen Städten: Stolpersteine - Messingtafeln am Boden mit den Namen von NS-Opfern. Heute verlegt der Künstler Gunter Demnig den 100.000. Stolperstein. In Nürnberg.
Gerade hat der Künstler Gunter Demnig drei Stolpersteine in der Stadtgartenstraße 28 in Oberkirch im Schwarzwald verlegt. Dort lebte das jüdische Ehepaar Siegfried und Clara Boss mit seiner Tochter Erna Magener.
Der Mann nahm sich aus Angst vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten 1938 das Leben, seine Frau wurde im August 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie wenige Monate später starb. Auch die Tochter, die im Sprachgebrauch der Nazis mit einem nichtjüdischen "Arier" verheiratet war, wurde kurz vor Kriegsende nach Theresienstadt deportiert, überlebte die dortigen Qualen jedoch und blieb trotz der Erfahrungen unter Hitlers Regime in Deutschland.
Gunter Demnig in seiner Werkstatt
Stolpersteine in vielen Städten
An diese Schicksale erinnern jetzt 96 Mal 96 Millimeter große Messingtäfelchen mit den Namen und Lebensdaten der NS-Opfer, eingelassen in den Boden vor dem Gebäude, das ihr Zuhause war.
Inzwischen verlegte Demnig, ein gebürtiger Berliner, diese Stolpersteine in mehr als 1265 deutschen Städten und Gemeinden und in 31 Ländern Europas. Am heutigen 26. Mai wird der Künstler auf diese Weise in Nürnberg der 100.000. Person gedenken, die von den Nationalsozialisten verfolgt, schikaniert, gefoltert, ermordet wurde.
Gedenken an Deportation von Roma und Sinti
Begonnen hat alles mit einer Erinnerungsaktion an die Deportation von Kölner Roma und Sinti im Mai 1940, erzählt Demnig im Gespräch mit dem BR. Er habe eine Schriftspur zu dem Thema verlegt: "Diese Deportation war so etwas wie eine Generalprobe, denn tausend Menschen wegzubringen ist ja eine logistische Leistung." In der Kölner Altstadt sei bei der Arbeit an der Schriftspur eine ältere Dame auf ihn zugekommen - "ganz offensichtlich eine Zeitzeugin". Sie habe zu ihm gesagt: "Ja, guter Mann, was Sie machen, ist ja ganz beeindruckend, aber hier bei uns haben doch niemals Zigeuner gelebt."
Da sei ihm klar geworden, "dass sie das wirklich nicht gewusst hat. Das war eigentlich der Auslöser, die Namen dorthin zurückzubringen, wo dieses Grauen angefangen hat", berichtet der heute 75-Jährige. Anfänglich sei es eher "Konzeptkunst" gewesen, also eine Idee, die er gar nicht ernsthaft in die Realität umsetzen wollte.
Im Dezember 2019 verlegte Demnig in Memmingen den 75.000. Stolperstein. Er erinnert an das Schicksal der jüdischen Familie Rosenbaum.
Es gibt auch Kritik
Viele Menschen zeigen sich beeindruckt und erschüttert über die oft unvermittelt ins Blickfeld geratenden Stolpersteine. Es gibt allerdings auch Kritik, am heftigsten von Charlotte Knobloch, die 2004 als Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Holocaust-Überlebende ihr Veto einlegte. Deshalb gibt es in der bayerischen Landeshauptstadt, dem Geburtsort des Nationalsozialismus, im öffentlichen Raum keine Stolpersteine.
Knobloch hatte persönlich mit ansehen müssen, wie SA-Männer Juden bedrängten und mit Füßen traten, daran fühlte sie sich durch die Messingtafeln am Boden traumatisch erinnert.
"Mit Füßen getreten"?
Demnig lässt diese emotionale Ablehnung, wonach die Opfer abermals "mit Füßen getreten" würden, allerdings nicht gelten: "Ich halte das für ein vorgeschobenes Argument, denn dann dürfte man den Petersdom auch nicht mehr betreten, da läuft man ja wirklich über die Grabplatten. Und je mehr Menschen über die Grabstätten in diesen katholischen Kirchen laufen, desto mehr dürfen sich die dort Bestatteten geehrt fühlen. Die meisten tun mir übrigens den Gefallen und treten auch gar nicht auf die Steine. Sie machen einen Bogen, bleiben stehen und lesen."
Recherche als Form des Gedenkens
Viele nachgeborene Juden, darunter Josef Schuster, seit November 2014 Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, würdigten die Stolpersteine als "Zeichen für ein gemeinsames Erinnern und Gedenken". 2021 sagte Schuster bei der Verlegung von 40 Messingtafeln in Würzburg: "Zum Kunstprojekt Stolpersteine gehört die Recherche, die der Verlegung jeden einzelnen Steines vorausgeht. Das macht der Künstler Gunter Demnig den Menschen zum Glück nicht bequem und erledigt das für sie."
Wer einen Stolperstein verlegen möchte, werde Pate und müsse nun selbst nachforschen: Wer wohnte in diesem Haus? Wohin wurden diese Menschen verschleppt? Wie und wo wurden sie ermordet? Gibt es noch Angehörige? Durch diese Recherche finde eine Auseinandersetzung mit der NS-Zeit statt, wie sie intensiver kaum vorstellbar sei, sagte Schuster. "Es ist eine Form des Gedenkens, die unmittelbar und sehr persönlich ist."
Inzwischen hat Demnig eine Stiftung gegründet, die für den Fortbestand seines Wirkens sorgen soll. Elf Mitarbeiter sind dort gegenwärtig mit Recherche-Arbeiten beschäftigt.
Gedenken an Johann Wild in Nürnberg
In Nürnberg wird der 100.000. Stolperstein dem bekennenden Sozialisten Johann Wild gewidmet sein, der wegen eines sogenannten Rundfunkverbrechens - er hatte ausländische Radioprogramme gehört - von einem Sondergericht zum Tode verurteilt worden war. Er starb am 17. Mai 1941 in der Haftanstalt München-Stadelheim durch das Fallbeil, wie auf der Website von Gunter Demnig nachzulesen ist.
Nürnberg, die Stadt, in der den NS-Hauptkriegsverbrechern der Prozess gemacht wurde, stehe heute für die "Achtung und Wahrung der Menschenrechte", heißt es dort weiter. Eigentlich seien zwölf Millionen Stolpersteine nötig, um allen Opfern des NS-Regimes ein angemessenes Gedenken zu widmen.
Hauseigentümer gegen Wandtafeln
Demnig erinnert sich daran, dass in Villingen-Schwenningen einst Immobilieneigentümer gegen die Verlegung von Stolpersteinen waren, weil sie Angst gehabt hätten, dass die Gebäude unverkäuflich oder zumindest im Preis sinken würden: "Es hat sechs Jahre gedauert, bis sich der Wind gedreht hatte. Inzwischen war ich drei Mal dort."
Bedenken der Hauseigentümer seien es auch gewesen, die ihn davon abgebracht hätten, Wandtafeln zu installieren: Ein mit ihm befreundeter Jude aus Leipzig habe ihn gewarnt, dass "80 bis 90 Prozent der Immobilieneigentümer" dagegen wären: "Dadurch wurde die Idee geboren, auf den öffentlichen Straßenraum auszuweichen", so der Künstler, der seine Arbeiten als "Kunstdenkmäler" verstanden wissen will. Er sei überzeugt: "Wenn Schüler mit so einem Familienschicksal plötzlich um die Ecke konfrontiert werden, ist das eine andere Art von Geschichtsunterricht."