Ermittler am Tatort im Tiergarten

Jahrestag des "Tiergartenmords" Kann so ein Mord wieder geschehen?

Stand: 23.08.2024 06:19 Uhr

Gerade stand Vadim Krassikow wegen des Gefangenenaustauschs im Zentrum der internationalen Öffentlichkeit. Nun ist es fünf Jahre her, dass er im Kleinen Tiergarten in Berlin einen Auftragsmord beging. Wäre so etwas wieder möglich?

Es kam wie erwartet: Für den "Tiergartenmörder" und die anderen russischen Spione und Kriminellen war am Flughafen Moskau-Wnukowo der rote Teppich ausgerollt. Vadim Krassikow stieg als Erster die Gangway hinab. Demonstrativ umarmte Wladimir Putin ihn. Nicht herzlich und lang, dafür umso klarer in der Aussage: Der Präsident hatte einen "Patrioten" heimgeholt, der dem Vaterland einen Dienst erwiesen hatte.

Diesen Dienst - den Mord am tschetschenischstämmigen Georgier Selimchan Changoschwili vor fünf Jahren - rechtfertigt Putin bis heute als Hinrichtung eines "Banditen" und "Terroristen". Putins Sprecher Dmitri Peskow bestätigte, dass der verurteilte Mörder einer Spezialeinheit des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB angehörte und in der Tat Vadim Krassikow heißt. Er stellte damit die Behörden und den Botschafter Russlands in Berlin bloß, die beharrlich von einem angeblichen Touristen namens Vadim Sokolow gesprochen hatten.

Gewaltmonopol der Bundesrepublik infrage gestellt

Dies bestätigt im Nachhinein den Vorwurf der Bundesanwaltschaft, den sie im Plädoyer im "Tiergartenmord"-Prozess gegen die russische Führung erhoben hatte: eine "radikale Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien". Weder hatten die russischen Behörden ein Auslieferungsersuchen mit Belegen über die dem Opfer Changoschwili unterstellten Taten geliefert. Noch kooperierten sie mit den deutschen Ermittlern bei der Aufklärung des "Tiergartenmords".

Stattdessen sei durch den Auftragsmord im Kleinen Tiergarten in Berlin, so die Bundesanwaltschaft, die Souveränität und das Gewaltmonopol der Bundesrepublik infrage gestellt worden. Der Mord am helllichten Tag habe das Sicherheits- und Gerechtigkeitsgefühl der Menschen in Deutschland erschüttert.

Einreise mit Pass ohne biometrische Daten

Dass Putin die Verunsicherung der Bevölkerung nicht nur in Kauf genommen hat, sondern durchaus beabsichtigt haben könnte, dafür sprechen russische Desinformationskampagnen mit diesem Ziel. Seit dem Beginn der Großoffensive gegen die Ukraine häufen sich Vorfälle, die mit den russischen Geheimdiensten in Verbindung gebracht werden - sei es die Festnahme zweier Deutschrussen wegen mutmaßlicher Sabotagepläne oder das Ausspähen des Rheinmetall-Chefs Armin Papperger.

Fraglich ist also, wie gut Behörden und Ermittler gewappnet sind. Dies beginnt mit der Visavergabe. Krassikow und ein Komplize hatten trotz sehr ähnlicher falscher Angaben und mit Pässen ohne biometrische Daten Touristenvisa beim französischen Konsulat in St. Petersburg erhalten. Der Komplize fuhr Recherchen zufolge vor der Tat über Polen nach Deutschland ein und aus. Krassikow reiste am Pariser Flughafen Charles de Gaulle in den Schengen-Raum ein.

Frankreichs Außenministerium beantwortete eine Anfrage dazu nicht. Das Auswärtige Amt in Berlin teilte mit: "Da alle seit 2006 ausgestellten russischen Pässe biometrisch sind, ist die Erteilung von Visa bei Vorlage eines nicht biometrischen russischen Passes ausgeschlossen."

Aufsicht über Ortskräfte

Sicherheitsexperten sehen als Möglichkeit dafür, dass dies doch passieren konnte, eine Überlastung derjenigen, die Visaanträge und Pässe überprüfen - gerade in Stoßzeiten während der Ferienmonate. Ex-BND-Agent Gerhard Conrad verweist auf ein Risiko beim Einsatz von Ortskräften bei der Bearbeitung von Visaanträgen. Als Mindestmaßnahme müsse sichergestellt werden, dass aus Deutschland entsandtes Personal die Dienst- und Fachaufsicht der Ortskräfte gewährleisten könne. "Nur so lässt sich das Risiko der Kollusion mit örtlichen kriminellen oder eben auch nachrichtendienstlichen Strukturen einigermaßen reduzieren."

Dabei handelt es sich um eine Frage nach Kosten und Kapazitäten: Das Auswärtige Amt betreibt weltweit 154 Botschaften und 57 Konsulate. Es hat dort 5.380 Beschäftigte fremder Staatsangehörigkeit oder deutscher Staatsangehörigkeit mit festem Wohnsitz im jeweiligen Land.

Visa verweigern

Zwar ist die Sensibilität bei dieser Thematik seit 2022 gestiegen und die Zahl der vergebenen Schengen-Visa gesunken: Im Jahr 2019 stellte Deutschland 325.840 russischen und 35.205 belarusischen Staatsangehörigen Schengen-Visa aus. Im Jahr 2023 waren es noch 15.221 für russische und 51.872 für belarusische Staatsangehörige. Hinzu kamen jeweils nationale Visa für Deutschland (D-Visum), deren Zahl nicht so deutlich abnahm: 2019 waren es im Falle Russlands fast 15.000 und 2023 fast 11.000. Bei Belarus stieg die Zahl sogar von 1.612 im Jahr 2019 auf 2.173 im Jahr 2023.

CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter, Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums zur Kontrolle der Nachrichtendienste (PKGr), warnt aber: "2022 wurden um die 400 russische Agenten aus ganz Europa ausgewiesen. Viele sind jedoch als Diplomaten getarnt oder mit Touristen-Visa weiterhin in europäischen Städten unterwegs, um Informationen durch Spionage abzugreifen und mit Desinformation und Sabotage den Zusammenhalt der EU und NATO zu zerstören und die Unterstützung der Ukraine zu sabotieren, oder eben gezielte Morde durchzuführen."

Eine Möglichkeit, diese hybride Kriegsführung zumindest einzudämmen, sei es, weitere russische Diplomaten auszuweisen und die Vergabe von Schengen-Visa gänzlich zu unterbinden, "so wie dies andere EU-Staaten wie die baltischen Staaten und Polen handhaben. Zusätzlich sollte es weitere Einschränkungen und verstärkte Prüfungen auch beim D-Visum geben." Zumindest schärfere Sicherheitsüberprüfungen forderten auch Bundestagsabgeordnete der Regierungskoalition, zum Beispiel, als das Ausspähen von Rheinmetallchef Papperger bekannt wurde.

Schlupfloch Ungarn

Doch diese Maßnahmen Deutschlands nutzen nichts, wenn andere Staaten des Schengen-Raums nicht entsprechend handeln. Konkret geht es um Ungarn: Ende Juli wurde ein Erlass der Regierung in Budapest bekannt, wonach russische und belarusische Staatsangehörige ohne Hürden in Ungarn einreisen und registrieren lassen können. Dies ermöglicht ihnen freies Reisen im gesamten Schengen-Raum.

Der Unionsabgeordnete Kiesewetter sieht darin ein Sicherheitsrisiko für die gesamte EU. Da Ungarn die Entscheidung nicht revidiert habe, hält Kiesewetter eine sofortige Suspendierung Ungarns aus dem Schengen-Raum für diskussionswürdig. "Ebenfalls sollte grundsätzlich ein Suspendierungsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages geprüft werden, da es nicht das erste Mal ist, dass Orban gezielt die EU-Werte verletzt und Sicherheit gefährdet."

Handlanger und Eckensteher

In Auftragsmorde oder auch Sabotageaktionen sind üblicherweise mehrere Personen involviert. Bei professionell ausgeführten Taten auf gegnerischem Territorium wie dem "Tiergartenmord" in Berlin gehen Fachleute davon aus, dass neben ein bis zwei hauptamtlichen Organisatoren ein Netzwerk aus Helfern am geplanten Ort des Attentats benötigt wird. Die Vorbereitung kann bis zu einem Jahr dauern.

Im konkreten Fall wurden Helfer gebraucht, die das Opfer gefunden und ausgekundschaftet haben. Sie suchten den Anschlagsort und einen Fluchtweg für Krassikow aus, auf dem es keine Kameras gab. Sie stellten ihm ein Fahrrad, einen E-Roller, Kleidung, die Pistole (eine Glock 26) und weitere Gegenstände bereit. Diese waren so präpariert, dass die Ermittler die Herkunft und ihren Weg nach Berlin nicht klar nachvollziehen konnten. Auch Mittäter wurden bislang nicht gestellt.

Geltungssucht, Habgier, Ideologie

Solche Helfer müssen keine professionellen Agenten sein und das tatsächliche Ziel der Aktionen nicht kennen. Es genügt, wenn sie sich unauffällig bewegen oder auch Teilinformationen liefern können. Dass Personen aus verschiedenen Motiven heraus bereit sind, für Russland aktiv zu werden, zeigen mehrere Gerichtsprozesse, bei denen die Anklage auf geheimdienstliche Agententätigkeit oder Landesverrat lautete. Im Fall eines Attentatsplans auf einen Tschetschenen in Bayern wurde auch ein Mitarbeiter des Landesverfassungsschutzamts Mecklenburg-Vorpommern als Helfer ausgemacht.

PKGr-Mitglied Kiesewetter verweist darauf, dass Russland auch Kriminelle anheuert. Er fordert die Stärkung der Nachrichtendienste, Strafverfolgungsbehörden und Sicherheitsbehörden, "um Lücken zu schließen und für neue Methoden gewappnet zu sein".

Kein Zeugenschutz

Dass Krassikow entdeckt wurde und die Richter am Ende zu dem Schluss kamen, dass er im Auftrag des russischen Staates gehandelt hatte, war mutigen Zeugen zu verdanken. Einer von ihnen war der Schwager Krassikows, der mit seiner Familie in der ostukrainischen Stadt Charkiw lebte.

Er identifizierte Krassikow und beschrieb vor Gericht, wie gefährdet er sich und seine Familie sah. Nachdem die russische Invasion im Februar 2022 - wenige Wochen nach dem Urteil - begonnen hatte, gelang es ihnen, aus der Ukraine zu fliehen. Weder sein Heimatland noch Deutschland stellten ihn damals unter langfristigen Zeugenschutz.

Professionell ausgeführte Taten nicht zu verhindern

Grundsätzlich gelte, dass sich ein politischer Mord bei professioneller Vorbereitung ebenso wenig wie ein Mord im kriminellen Milieu verhindern lasse, so der pensionierte BND-Mitarbeiter Conrad - es sei denn, der ausführende Geheimdienst wäre nachrichtendienstlich durch Quellen im Inneren oder durch technische Sensoren ausreichend durchdrungen. Das sei im Einzelfall "bei entsprechendem Mitteleinsatz, ausreichender operativer und politischer Risikobereitschaft und dem nötigen Glück des Tüchtigen möglich".

Ansonsten müsse versucht werden, "ein ganzes Netz an nahezu lückenloser Beobachtung über potenzielle Anschlagsopfer oder -objekte zu spannen", so Conrad. "Das hört sich nicht nur mehr als ambitioniert an, das ist es auch."

Außerdem bliebe eine weitreichende Überwachung des öffentlichen Raums und Metadatenspeicherung elektronischer Kommunikationsmittel. Aber dies würde auf Kosten der Wahrung von Persönlichkeitsrechten und einer liberalen Demokratie gehen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 12. Juli 2024 um 19:09 Uhr.