Spionage für Russland Geltungssucht, Frust, Geldgier
Deutsche Behörden warnen vor russischen Ausspähaktionen. Der nun Verhaftete ist einer von mehreren Enttarnten, die sich mutmaßlich selbst als Spion anboten. Was steckt dahinter - und wie groß ist das Sicherheitsrisiko?
Politische Spionage, militärische Aufklärung, Wirtschaftsspionage und die Ausspähung Kritischer Infrastrukturen - der im Juni veröffentlichte Verfassungsschutzbericht für 2022 konstatiert, von den russischen Nachrichtendiensten gehe eine "hohe Gefährdung" für die Bundesrepublik Deutschland aus.
Wie eine Bestätigung klingt die Verhaftung eines Behördenmitarbeiters wegen des Verdachts geheimdienstlicher Tätigkeit für Russland am 9. August in Koblenz. Die Bundesanwaltschaft wirft Thomas H. vor, Informationen aus seiner Tätigkeit für das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr an diplomatische Vertretungen Russlands übermittelt zu haben, damit diese an einen russischen Nachrichtendienst weitergegeben werden.
Auffällig an der Mitteilung der Bundesanwaltschaft ist die Feststellung, dass Thomas H. "aus eigenem Antrieb" an das Generalkonsulat in Bonn und die Botschaft in Berlin herangetreten sei und von sich aus eine Zusammenarbeit angeboten habe. Tatsächlich trifft auf mehrere bekannt gewordene Fälle zu, dass Beschuldigte aus eigener Initiative handelten.
Einen klassischen Anwerbeversuch beschrieben die Ermittler lediglich im Fall eines Doktoranden an der Universität Augsburg. Ein Führungsoffizier des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR, der am Konsulat in München akkreditiert war, nahm demnach 2019 bei einer Rafting-Tour in den Alpen Kontakt zu dem jungen Forscher auf und zahlte ihm 2500 Euro für Informationen aus der Raumfahrtindustrie. Der Angeklagte russischer Herkunft wurde 2022 zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.
Geldgier und Frust
Anders sieht es im hochkarätigen Fall des BND-Mitarbeiters Carsten L. aus, der Ende 2022 verhaftet wurde. Soweit aus Ermittlungen und Recherchen bislang bekannt wurde, ließ sich L. mutmaßlich über einen Bekannten namens Arthur E. auf Kontakte in Russland ein. Der ehemalige Bundeswehr-Zeitsoldat Arthur E. soll demnach von L. bereitgestellte Dokumente zu Agenten des Inlandsgeheimdienstes FSB in Russland gebracht und dafür 400.000 Euro Agentenlohn für L. nach Deutschland geschleust haben.
Geldgier scheint dabei ein Motiv gewesen zu sein, außerdem bei L. Frust über seine berufliche Lage, konkret seine Versetzung von Bayern nach Berlin. L. und E. sitzen in Untersuchungshaft, die Bundesanwaltschaft wirft ihnen Landesverrat vor, weil sie Staatsgeheimnisse verraten haben sollen.
Motiv: Geltungssucht
Mit einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und neun Monaten wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit für Russland kam Ralph G. davon. Der frühere Reserveoffizier der Bundeswehr hatte fast nur öffentlich zugängliche Dokumente weitergegeben. Für den Zugang zu geheimen Informationen fehlte ihm die Sicherheitsfreigabe.
Als Motivation attestierte ihm der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf eine "extrem russlandfreundliche Einstellung". Außerdem habe er den Drang gehabt, sich bei russischen Militärangehörigen beliebt und wichtig zu machen. Nach Aussage eines Zeugen nahm G. 2014 von sich aus Kontakt zu Oberst Michail Starow auf, von 2010 bis 2017 Luftwaffen- und Marineattaché an der russischen Botschaft in Berlin.
Verteidigungsattachés mit GRU verbunden
Nach Starows Rückkehr nach Russland bemühte sich G. dem Gericht zufolge um ebenso gute Verbindungen zu dessen Nachfolgern. Diese zeigten jedoch, wie G. zu seinem Bedauern und auch Frust vor Gericht berichtete, wenig oder kein Interesse an ihm - wenngleich sich einige von ihnen, wie Oberst Andrej Siwow, als sehr umtriebig erwiesen.
Siwow empfing zum Beispiel im April 2019 an der russischen Botschaft die Berliner Landesgruppe des Reservistenverbandes. Auch nach der russischen Annexion der Krim und dem Kriegsbeginn in der Ostukraine 2014 hatte es noch zahlreiche Kontakte zu den russischen Verteidigungsattachés in Deutschland gegeben. Dabei war bekannt, dass diese dem Militärgeheimdienst GRU zuzuordnen sind, wie Brigadegeneral a.D. Reiner Schwalb als Zeuge vor Gericht in Düsseldorf ausgesagt hatte.
Brief an die Botschaft
Auch Jens F. aus Potsdam war nach Einschätzung des Kammergerichts Berlin davon ausgegangen, dass er den GRU erreichen würde, als er im Sommer 2017 eine CD-Rom an einen Verteidigungsattaché geschickt habe. Darauf fanden sich Grundrisse von Liegenschaften des Bundestages, die jedoch nicht als geheim eingestuft waren. Die verwendete CD-Rom, Briefmarke und Umschlag sowie der Poststempel ließen sich auf das Büro zurückführen, in dem F. arbeitete. Der Verfassungsschutz fing den Brief offenbar ab, bevor er in der Botschaft eintreffen konnte.
Der Angeklagte lehnte es ab, seine Motive dafür offenzulegen, warum er Kontakt zum GRU suchte. Aus Zeugenaussagen ließ sich jedoch heraushören, dass er durchaus unzufrieden mit seinem Leben in der Bundesrepublik war und er positiv gegenüber Russland eingestellt war. Ende Oktober 2021 wurde auch er wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilt.
Frustrierter Wachmann
13 Jahre Haft waren die Konsequenz für einen Briten mit Wohnsitz in Potsdam. Bei David S. war die Lage nicht nur aufgrund seines Geständnisses klarer. Bei ihm fand sich ein Briefentwurf vom 14. Mai 2020 an den erwähnten Verteidigungsattaché Siwow, wie die britische Zeitung "The Guardian" berichtete. Als Wachmann an der britischen Botschaft bot er demnach an, ein Buch aus der Verteidigungsabteilung bereitzustellen.
Nachdem er in eine Falle deutscher und britischer Dienste gegangen war, wurde David S. nach Großbritannien überstellt. Vor einem Gericht in London gab er schließlich zu, zwischen Mai 2020 und August 2021 geheimes Material weitergegeben und dafür Geld erhalten zu haben. Er sei frustriert über sein Leben gewesen, habe Großbritannien aber nicht schaden wollen. Der Staatsanwaltschaft zufolge war David S. vom Westen desillusioniert und habe sich zu einem Anhänger Russlands entwickelt.
Fälle weisen Ähnlichkeiten auf
Zur konkreten Motivlage des am 9. August Verhafteten ist bislang wenig offiziell bekannt. Der "Tagesspiegel" berichtete, der Beschuldigte sei durch Nähe zur AfD und durch Russlandfreundlichkeit aufgefallen. Frust, Geltungssucht und/oder Geldgier finden sich immer wieder. Alle waren älter als 50, als sie aufflogen.
Abgesehen vom Fall um den BND-Mitarbeiter gingen die Ertappten bei ihrer gezielten Kontaktaufnahme nicht arg konspirativ vor und boten keine hochsensiblen Informationen an. Die Richter in Düsseldorf und Berlin stellten aber jeweils klar, dass beides nicht notwendig sei, um wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit verurteilt zu werden. In allen Fällen ruinierten die Beschuldigten nicht nur ihr eigenes Leben gründlich, sie schädigten auch andere in ihrem Umfeld.
Problembewusstsein schärfen, Prüfverfahren ändern
Der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKGr), Konstantin von Notz, lobt zunächst den Ermittlungserfolg der Sicherheitsbehörden. "Dennoch brauchen wir ein ganz neues Verständnis der Spionageabwehr und ein scharfes Problembewusstsein für geheimhaltungsrelevante Informationen", schreibt der Grünen-Bundestagsabgeordnete auf Anfrage von tagesschau.de. Die langwierigen und unflexiblen Prüfverfahren für Personen in sicherheitsrelevanten Bereichen müssten auf Prüfstand. Dies bestätigt der CDU-Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter, ebenfalls PKGr-Mitglied. Er fordert den Einsatz moderner Rechercheverfahren auch in öffentlich zugänglichen Quellen im Internet.
AfD als Sicherheitsrisiko
Die Russlandnähe der AfD müsse klar als Sicherheitsrisiko benannt werden und die Überprüfung auch eines möglichen Verbots fortgeführt werden, so Kiesewetter. Von Notz fordert eine Überprüfung disziplinarrechtlicher Handlungsoptionen.
Der CDU-Abgeordnete sieht auch Kollegen, Freunde und Familien gefordert. Darüber hinaus könnten in der Gesellschaft viele Gefahren durch couragiertes Eintreten, aber auch durch klare strategische Kommunikation gemildert werden. Abgeordnete sollten Diskussionen mit Bürgerinnen und Bürgern zu suchen. "Auch Medien müssen mehr darauf achten, false balancing zu vermeiden und russischer Propaganda und Narrativen keine Bühne zu bieten, sondern aufzuklären."
Beide Abgeordnete sehen eine Zunahme der Gefahren. "Längst ist das Thema so relevant wie im Kalten Krieg", so von Notz. Kiesewetter erwartet: "Es werden weitere Fälle folgen, bei denen russische Agenten eingesetzt werden oder auch Deutsche sich quasi freiwillig andienen."