Demonstranten halten ein Transparent mit der Aufschrift "Freiheit und Glück, Staatsterrorismus stoppen, Solidarität mit Untergetauchten und Gefangenen" bei einer Demo für Ex-RAF-Mitglied Daniela Klette in Berlin.
interview

Gefährdungslage in Deutschland Experte überrascht von RAF-Solidaritätsdemo

Stand: 11.03.2024 20:31 Uhr

Nach der Solidaritätsdemonstration für RAF-Terroristen in Berlin sieht der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar eine Gefährdungssituation durch Linksterroristen. Dennoch seien islamistischer und rechtsextremer Terror stärker zu bewerten.

tagesschau.de: Wir erleben gerade Solidaritätskundgebungen und Demonstrationen für RAF-Terroristen. Hat Sie das überrascht?

Wolfgang Kraushaar: Ja, das muss man schon sagen. Das ist wirklich eine große Ausnahme. Direkte Solidaritätsdemonstrationen für die RAF hat es kaum irgendwann gegeben, außer wenn es um die Bedingungen der Inhaftierung von RAF-Mitgliedern ging.

Insofern ist das vor allem nach einer so langen Zeit eine wirkliche Überraschung. Die RAF wurde ja vor über einem Vierteljahrhundert aufgelöst.

tagesschau.de: Wenn solche Demonstrationen heute auf deutschen Straßen stattfinden, heißt das, dass der Boden für einen linksextremistischen Terror im Stile der RAF damit bereitet ist? Könnte die RAF dann nochmal in einer weiteren Generation aufleben?

Kraushaar: Ich hätte noch vor zwei Wochen gesagt, solche Gedanken muss man sich nicht machen. Aber jetzt würde ich es ganz anders sehen. Denn die Lage hat sich verändert. Und zwar nicht nur, weil Frau Klette verhaftet worden ist, sondern weil man bei ihr wirklich ein regelrechtes Waffenarsenal gefunden hat - in ihrer 40 Quadratmeter großen Ein-Zimmer-Wohnung.

Dazu kommt, dass es auf einen Strommasten in der Nähe des Tesla-Werkes in Brandenburg einen Anschlag gegeben hat von einer linken Gruppierung. Diese Dinge sprechen dafür, dass es da eine besondere Gefährdungssituation geben dürfte. Und zwar insbesondere vor dem Hintergrund, was sich im Gazastreifen gerade abspielt.

Wolfgang Kraushaar
Zur Person
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar gilt als einer profiliertesten deutschen Forscher zur Geschichte des linksextremistischen Terrorismus. Er arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung und forscht an der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur über die RAF und den internationalen Terrorismus.

tagesschau.de: Der Terror der RAF hatte die Bundesrepublik viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, in Atem gehalten. War der Terror der RAF der tödlicher und gefährlicher verglichen mit dem Terror von rechts oder von Islamisten?

Kraushaar: Nein, ich glaube nicht, dass man das so formulieren darf. Es ist zwar unbestreitbar, dass der Terrorismus, für den die RAF sowie die Bewegung 2. Juni und die revolutionären Zellen gestanden haben, eine ganze Menge an Todesopfern nach sich gezogen hat. Man zählt offiziell 34.

Aber das, was sich von islamistischer Seite oder auch von rechtsterroristischer Seite abgespielt hat, kann sich dahinter nicht verstecken, ganz im Gegenteil: Diese beiden Formen gewaltsamer, terroristischer Praxis sind eigentlich noch stärker zu bewerten - jedenfalls in der Gesamtbetrachtung.

tagesschau.de: Wenn wir auf die Situation heute schauen: Ist der islamistische Terror die größere Bedrohung, die uns mehr Angst machen muss?

Kraushaar: Ich glaube, das muss man zumindest in Anspruch nehmen, weil es diese Gefährdungssituation ansonsten verkennen würde. Wir haben ja seit 9/11, also den Terroranschlägen am 11. September 2001, eine massive Bedrohung durch den Islamismus, den "Islamischen Staat" zum Beispiel.

Das ist ein ganz großer und sehr undurchsichtiger Komplex, der sich zum Teil auch im Internet abspielt und wo wir es eher mit Netzwerken als mit einzelnen Organisationen zu tun haben. Und zum Teil auch mit Einzeltätern, die sich über das Internet motiviert fühlen.

Es hat zum Beispiel gerade in Zürich vor einer Woche einen Mordanschlag eines 15-Jährigen auf einen orthodoxen Juden gegeben, der gerade noch mit dem Leben davongekommen ist. Das sind Dinge, die wirklich beunruhigend sind.

Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt
Der 11. März ist Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt. Er war in Deutschland 2022 eingeführt worden. Er knüpft an den bereits nach den Bombenanschlägen in Madrid vom 11. März 2004 auf europäischer Ebene eingeführten Gedenktag an.

tagesschau.de: Wenn wir auf den Terror speziell von rechts schauen und die frühen Formen, an die sich viele von uns noch aktiv erinnern können: vom Oktoberfest-Anschlag bis hin zu den Anschlägen auf Flüchtlingsheime, auf Migranten. Das sorgte damals für Dutzende Tote. Dennoch wurden die Taten oftmals nicht als Terrorismus benannt. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Kraushaar: Ja, das ist wirklich ein großes Problem. Also, wir haben ja in den 1990er Jahren eine unglaublich lange, menschengefährdende Serie von Brand- und Mordanschlägen erlebt, ohne eine angemessene staatliche Reaktion darauf.

Ich will nur ein Beispiel bringen: Der Holocaust-Überlebende Ralph Giordano hatte 1992 schon in einen offenen Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl vor einem Vakuum des Rechtsstaates gewarnt. 1993 hat es einen fürchterlichen Terroranschlag auf eine türkische Familie in Solingen gegeben. Da ließ Kohl nur erklären, er würde nicht auf Beileidstourismus machen. Das war eine ganz klare Absage, sich dem zu stellen.

Man muss dem gegenüberstellen, dass wir zwischen 1990 und 2020 mindestens 187 Todesopfer zu verzeichnen hatten durch diese Form von Mord und Gewalttaten. Auf der offiziellen Seite werden davon nur 109 anerkannt. Das ist eine wirklich sehr große Differenz. Es war in früheren Jahren noch viel gravierender, weil man sich geweigert hat, die entsprechenden Opfer richtig zuzuordnen.

tagesschau.de: Welche Folgen hatte das etwa für die Terrorserie des NSU?

Kraushaar: Es gibt eine Reihe von Sozialwissenschaftlern, die der Überzeugung sind, dass es für junge Leute durch diese Art von Vakuum des Rechtsstaates in der Ära von Helmut Kohl eine Möglichkeit gab, sich zu etablieren - über Rechtsrock-Konzerte und anderes mehr. Es konnte sich ein bestimmtes Milieu herauskristallisieren, in dem bestimmte Gewaltformen ausprobiert und praktiziert werden konnten.

Die Wissenschaftler sind der Überzeugung, dass das zum nationalsozialistischen Untergrund mit seinen zehn Todesopfern geführt hat.

Das Interview führte Werner Schlierike/hr-iNFO, Redaktion: Susanne Mayer