Historiker Benz zum Urteil gegen Gröning "Holocaust-Mahnmale alleine reichen nicht"
"Das Urteil gegen den SS-Mann Gröning ist ein Kompromiss", sagt Historiker Wolfgang Benz im Gespräch mit tagesschau.de. Es zeige, dass Deutschland seine Vergangenheit ernst nehme. Denn für die Aufarbeitung reichten Denkmäler und Mahnmale alleine nicht, auch die Justiz gehöre dazu.
tagesschau.de: Vier Jahre Haft gegenüber 300.000 Toten in Auschwitz - wie will man dieses Urteil einem Holocaust-Überlebenden erklären?
Wolfgang Benz: Das kann man nicht erklären. Der Holocaust-Überlebende hat eine andere Perspektive als der Richter, der Historiker oder die Frau auf der Straße. 300.000-facher Mord ist Oskar Gröning nicht nachzuweisen, sondern es ist Beihilfe. Er war Teil der Mordmaschinerie und als solcher ist er nicht unschuldig und musste eine Strafe bekommen. Der Prozess gegen Gröning ist die Folge des Demjanjuk-Prozesses, wo zum ersten Mal nicht die Tat als solche nachgewiesen wurde, sondern die Zugehörigkeit zum Täterkollektiv ausschlaggebend für eine Bestrafung war.
tagesschau.de: Welches Signal geht mit diesem Urteil an Holocaust-Überlebende und deren Angehörige?
Benz: Damit zeigt die Mehrheitsgesellschaft den Holocaust-Überlebenden, dass die Verbrechen nicht vergessen sind. Die deutsche Gesellschaft und die Justiz bemühen sich, niemanden, der am Holocaust beteiligt war, ungestraft davon kommen zu lassen, weil er zu alt, zu krank ist oder weil es als zu lange her erscheint. Das Urteil heute hat historische, moralische und juristische Notwendigkeiten sorgfältig gegeneinander abgewogen. Mir erscheinen vier Jahre Freiheitsentzug als ein Kompromiss, mit welchem dem Rechtsstaat genüge getan ist.
"Wir gehen nicht mit dem Schwamm drüber"
tagesschau.de: Welche Bedeutung hat dieses Urteil für die Aufarbeitung des Holocausts?
Benz: Die Bedeutung des Urteils liegt darin, dass man sich der Monstrosität der Tat bewusst bleibt und deshalb keine Anstrengungen scheut, um deutlich zu machen: Die Tat war verbrecherisch, die Mitwirkung war verbrecherisch. Wir ziehen keinen Schlussstrich und wir gehen nicht mit dem Schwamm drüber.
tagesschau.de: Wie wichtig ist dieser Prozess für die Erinnerungskultur in Deutschland, gerade auch für die junge Generation?
Benz: Wir können nicht Denkmäler errichten, aber sagen, den Tätern darf nichts mehr geschehen, die sind ja so alt und wackelig. Die Konsequenz von Erinnerungskultur und Rechtsstaat muss darin bestehen, Täter und Tatverdächtige auch nach so langer Zeit noch vor Gericht zu bringen. Das Argument, der Angeklagte sei so alt, man könne nichts mehr machen - das habe ich schon vor dreißig Jahren bei NS-Prozessen gehört. Dafür habe ich kein Verständnis. Wenn wir in einem Rechtsstaat leben wollen, müssen wir auch alle Konsequenzen des Rechtsstaates ziehen. Auch für junge Menschen ist das ein deutliches Zeichen, dass wir es nicht beim Holocaust-Mahnmal bewenden lassen, sondern das wir Erinnern ernst nehmen. Da gehört die juristische Aufarbeitung dazu.
Reue sollte Diskussion beeinflussen
tagesschau.de: Wie verändert sich durch den Prozess der Blick der Deutschen auf die eigene Vergangenheit?
Benz: Wir haben immerhin einen Angeklagten, der nicht auf Unschuld plädiert. Er wurde nicht gegen seinen Willen vor Gericht gezerrt und zeigte sich nicht als das große Unschuldslamm. Er vermittelte den Rechtsextremisten und den Neonazis nicht das Bild, hier herrsche eine Unrechtsjustiz. Dafür muss man ihm dankbar sein. Er sagt, er sei in Auschwitz dabei gewesen und es tue ihm leid. Das sollte die Diskussion so beeinflussen, dass man nicht mehr auf Unwissen, Befehl und Gehorsam rekurrieren kann.
tagesschau.de: Nehmen Sie Oskar Gröning seine Reue ab?
Benz: Er ist einer der ganz seltenen Fälle oder der einzige vielleicht, der sich nicht auf "er habe nur seine Pflicht getan", "er habe von allem nichts gewusst" oder "er habe nichts Unrechtes getan" beruft. Er hat Reue gezeigt. Das muss man ernst nehmen. Das nehme ich ihm ab.
tagesschau.de: Wie viel bringen solche Prozesse Historikern für ihre Arbeit?
Benz: Der Auschwitz-Prozess 1965 hat für die Historiker einen gewaltigen Erkenntnisgewinn gebracht. Der Eichmann-Prozess 1961 hatte auch wegen der großen Mengen von Dokumenten, die damals zu sichten waren, viele Informationen ans Tageslicht gebracht. Das ist im Jahre 2015 nicht der Fall. Jetzt liegt die Erkenntnis darin, wie wir mit nicht verjährbarer Schuld umgehen.
tagesschau.de: Sie haben lange begleitet, wie die Bundesrepublik die NS-Geschichte aufgearbeitet hat. Stand 2015 - hat Deutschland sich umfassend der eigenen Vergangenheit gestellt?
Benz: Ja, mit gewissen Anlaufschwierigkeiten und nicht in der ersten Generation. Vieles ist unwiderbringlich versäumt worden. Es hätte diese Prozesse in den Fünfziger und Sechziger Jahren in größerem Umfang geben müssen. Viel zu viele schuldige Täter sind davon gekommen, weil viel zu viele die Augen zugedrückt haben. Je länger der Holocaust her ist, umso entschiedener hat sich die Bundesrepublik der Geschichte gestellt. Das Urteil heute ist ein Teil davon.
Das Interview führte Barbara Schmickler, tagesschau.de.