"Schwulen-Paragraf" Späte Gerechtigkeit für "175er"
Rund 50.000 Männer wurden in Deutschland nach Paragraf 175 verurteilt, weil sie homosexuell sind. Nun sollen die Opfer für dieses Unrecht entschädigt werden. Über einen entsprechenden Gesetzentwurf hat das Bundeskabinett heute abgestimmt.
17 Jahre war er alt, erzählt uns ein Mann aus Baden-Württemberg, der seinen Namen lieber nicht in einem Artikel lesen möchte. Es klingelte, und die Sittenpolizei stand vor der Tür. Er habe Sex mit einem anderen Mann gehabt, so die Beamten vorwurfsvoll. Also mitkommen.
Es folgte ein langes Verhör auf der Wache: über Männer-Sex, der in Deutschland lange Zeit verboten war. Der 17-Jährige fühlte sich wie ein Verbrecher, erzählt er uns. Die Angelegenheit landete vor Gericht. Am Ende entschied ein Richter, dass eine Bewährungsstrafe für den Minderjährigen gerecht wäre - allerdings verbunden mit drei Wochenenden im Gefängnis.
Rund 50.000 Männer wurden wegen des umstrittenen Paragraphen 175 verurteilt. Die allermeisten davon vor 1969. Für viele Betroffene bedeutete das: teils mehrjährige Haftstrafen, Stigmatisierung und keine Aussicht auf eine bürgerliche Existenz in der Gesellschaft. Einige Betroffene zerbrachen daran, begingen Selbstmord.
Maas spricht von "Schandtaten des Rechtsstaates"
Diese Urteile will die Bundesregierung nun aufheben. Das sieht ein Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums vor, der dem ARD-Hauptstadtstudio vorliegt und nun vom Kabinett abgesegnet wurde. Voraussetzung: Die Sexualpartner waren damals über 14 Jahre alt, und die sexuellen Handlungen waren einvernehmlich.
"Die alten Urteile sind aus heutiger Sicht eklatantes Unrecht", sagt Bundesjustizminister Heiko Maas. "Sie verletzen jeden Verurteilten zutiefst in seiner Menschenwürde. Diese Schandtaten des Rechtsstaates werden wir niemals wieder ganz beseitigen können, aber wir wollen die Opfer rehabilitieren." Zwar hatte Maas schon im vergangenen Juli ein Eckpunktepapier und im Oktober einen Referentenentwurf vorgelegt. Dennoch dauerte es bis März, bis sich die Koalition auf die Formulierungen eines geplanten Gesetzestextes einigen konnte.
Warum? Schließlich ist auch der Union "die nachträgliche Wiedergutmachung ein wichtiges Anliegen", betonte Elisabeth Winkelmeier-Becker, rechtspolitische Sprecherin der CDU. Die Urteile stellten eine bleibende Belastung der Betroffenen dar, die letztlich allein wegen ihrer sexuellen Orientierung kriminalisiert wurden.
Kein "Nein heißt Nein" im Entwurf
Und doch wurde hinter den Kulissen hart gerungen. Der Union ging es darum, dass durch das Gesetz keine Fälle rehabilitiert werden könnten, die auch heute noch strafbar wären. Daher hat sie - nach eigenen Angaben - an zwei Stellen Änderungen durchgesetzt. Erstens: Die Urteile sollen nur insoweit aufgehoben werden, als der Paragraph 175 betroffen ist. Werden im Urteil auch andere Delikte aufgelistet, dann soll der Rechtsspruch nur teilweise aufgehoben werden. Zweitens: Eine Rehabilitierung soll dann ausgeschlossen werden, wenn es zum Missbrauch von Schutzbefohlenen gekommen ist. Ein Beispiel: Wenn ein Abhängigkeitsverhältnis ausgenutzt wurde, gegenüber einem Gefangenen etwa.
An einer Stelle konnte sich die Union gegenüber der SPD allerdings nicht durchsetzen. Die "Nein heißt Nein"-Formulierung soll nicht in den Gesetzestext aufgenommen werden. Dabei geht es um folgende Situation: Angenommen, der Verurteilte wollte Sex mit einem anderen Mann, dieser hatte mit einem "Nein" seinen Unwillen ausgedrückt, trotzdem kam es zum Geschlechtsverkehr - ohne Anwendung von Gewalt. Ein spezieller Fall, der im Gesetzentwurf nicht berücksichtigt wird. Und einer, der darüber hinaus wohl äußerst schwer zu rekonstruieren sein dürfte.
Wie hat sich der Sex im Einzelfall abgespielt? Staatsanwaltliche Ermittlungsakten oder ergangene Urteile liegen häufig nicht mehr vor. Die Betroffenen werden in diesen Fällen wohl eidesstattliche Versicherungen abgeben müssen.
3000 Euro pro aufgehobenem Urteil
Kommt es zur Aufhebung des Strafurteils, dann werden die Betroffenen entschädigt. Der Gesetzentwurf sieht einen Pauschalbetrag von 3000 Euro pro aufgehobenem Urteil vor, plus 1500 Euro je angefangenem Jahr erlittener Freiheitsentziehung.
Zusätzlich zu dieser sogenannten Individualentschädigung plant die Bundesregierung auch eine Kollektiventschädigung. Jedes Jahr sollen 500.000 Euro an die Magnus-Hirschfeld-Stiftung gehen. Sie fördert die Akzeptanz von Menschen mit einer nicht-heterosexuellen Orientierung in unserer Gesellschaft. Mit dieser Kollektivförderung soll etwa all den verstorbenen Betroffenen gedacht werden, die von der jetzt vorgesehenen Regelung nicht mehr profitieren können.