Ein Jahr AKW-Abschaltung Warum Horrorszenarien ausgeblieben sind
Vor einem Jahr wurden die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland vom Netz genommen. Der Energiemarkt hat das ohne spürbare Verwerfungen verkraftet - trotz einiger Warnungen. Wie ist das gelungen?
Die einen feierten, die anderen sprachen von einer Fehlentscheidung. Am 15. April des vergangenen Jahres wurden die letzten drei deutschen Atomkraftwerke vom Netz genommen. Auch jetzt, ein Jahr danach, fallen die Bewertungen ziemlich unterschiedlich aus.
Julia Verlinden, Vize-Chefin der Bundestagsfraktion der Grünen, nennt es einen richtigen Schritt, dass die letzten deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet wurden. "Viele Menschen haben sich Jahrzehnte dafür eingesetzt, dass wir endlich sichere und saubere Energieversorgung bekommen."
Ganz anders sieht es der Experte für Energie und Klimaschutz in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Andreas Jung: "Die Entscheidung, mitten in der Energiekrise die letzten drei Kernkraftwerke abzuschalten, war falsch. Denn es galt und gilt, alle Möglichkeiten der Energieerzeugung zu mobilisieren."
Weniger Verbrauch, mehr Erneuerbare
2022 hatten die letzten drei deutschen AKW noch für rund sechs Prozent der hiesigen Stromproduktion gesorgt. Vergleichsweise günstig und stabil. Diese Strommenge steht seit der Abschaltung nicht mehr zur Verfügung. Aber Verwerfungen am Strommarkt sind ausgeblieben.
Lion Hirth, Experte für Energiepolitik an der Hertie School Berlin sieht dafür mehrere Gründe: "Zum einen ist der Atomausstieg ja schrittweise passiert. Wir haben ja schon seit 2011 immer mehr Blöcke vom Netz genommen. Und letztes Jahr waren es nur noch die drei verbliebenen."
Dadurch sei die Lücke nicht mehr so groß gewesen, sagt Hirth. "Und diese Lücke wurde einerseits gefüllt, weil der Stromverbrauch zurückgegangen ist, andererseits, weil wir mehr Strom aus erneuerbaren Energiequellen produziert haben. Insbesondere Windenergie."
Im Strommarkt 2023 fallen einige Dinge besonders auf: Zum einen ging wegen der Rezession der Stromverbrauch um rund fünf Prozent zurück. Allein das hätte die Atomlücke fast gefüllt. Zum anderen gab es preisbedingte Verschiebungen im deutschen und europäischen Kraftwerksmix.
Gaskraftwerke ersetzten Kohlemeiler, da die Gaspreise wieder deutlich niedriger waren als 2022 - nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Zudem liefen auch wegen günstiger Wetterbedingungen die Windkraftwerke in Deutschland auf Hochtouren und der Ausbau von Solaranlagen kam deutlich voran. Das bedeutete in der Summe auch weniger Treibhausgase.
Außerdem hat Deutschland im vergangenen Jahr zum ersten Mal seit langem mehr Strom aus dem Ausland bezogen als an das Ausland abgegeben. Gut die Hälfte davon kam aus Erneuerbaren, der andere Teil vor allem aus Atom-, Kohle- und Gaskraftwerken.
"Aus Systemgründen nicht mehr notwendig"
Hans-Jürgen Brick, Chef des Übertragungsnetzbetreibers Amprion, rechnet wegen der Energiewende auch mittelfristig mit einem steigenden Bedarf an Stromimporten in Deutschland. Die Netze seien wegen der AKW-Abschaltung aber nicht gefährdet.
Das energiewirtschaftliche Umfeld habe sich nach der Energiekrise im Jahr 2022 inzwischen wieder entspannt. "Gerade durch die höhere Verfügbarkeit der Kernkraftwerke in Frankreich aber auch durch das Thema LNG sind wir jetzt so weit, dass wir sagen können: Diese Kernkraftwerke sind aus Systemgründen nicht mehr notwendig gewesen", so Brick. Deshalb habe man sie ohne Beeinträchtigung der Systemstabilität abschalten können.
Die Entspannung an den Energiemärkten hat auch dafür gesorgt, dass die Strompreise inzwischen wieder gesunken sind. Nach Einschätzung des Energieexperten Lion Hirth hätte der Weiterbetrieb der AKW dabei nur geringe Effekte gehabt: "Die Atomkraftwerke sind wahnsinnig teuer im Neubau, aber wahnsinnig günstig, wenn sie mal stehen. Das kostet praktisch nichts, Strom aus Atomkraftwerken herzustellen." Wenn man solche Anlagen abschalte, habe man tendenziell natürlich einen Preiseffekt, so Hirth. "Jedoch ist dieser Effekt so klein, dass ich glaube, dass man ihn gar nicht wirklich messen kann."
Ein Machtwort war nötig
Innerhalb der Ampelkoalition hatte vor allem die FDP darauf gedrungen, die Atomkraftwerke weiterlaufen zu lassen, was für heftigen Streit in der Koalition sorgte. Den beendete Bundeskanzler Scholz mit Verweis auf seine Richtlinienkompetenz: Die AKW sollten zwar noch etwas länger als ursprünglich geplant laufen, um sie im Winter 2022/23 noch nutzen zu können. Spätestens am 15. April 2023 sollte dann aber Schluss sein, so Scholz in einem Brief an die beteiligten Minister von FDP und Grünen.
FDP-Fraktionsvize Lukas Köhler bewertet den Ausstieg heute so: "Die alten AKW hätte man weiterlaufen lassen können mit dem Ziel: Wir steigen erst aus der Kohle aus und dann aus den AKW. Deutschland hat sich für einen anderen Weg entschieden."
Herausforderungen bleiben riesig
Nach dem Ende der Atomkraftwerke verfolgt die Bundesregierung jetzt das Ziel, sich auch schrittweise aus der Nutzung der Kohlekraftwerke zu verabschieden - "idealerweise" soll das bis 2030 gelingen, wie es im Koalitionsvertrag heißt.
Allerdings müssen dafür die Erneuerbaren deutlich schneller ausgebaut werden als bisher. Und das Wirtschaftsministerium will den Bau neuer, wasserstofffähiger Gaskraftwerke ausschreiben, um Lücken und wetterbedingte Schwankungen in der Stromversorgung auszugleichen.
Bis zu 16 Milliarden Euro will der Bund dafür an Fördermitteln bereitstellen. Den Zeitplan für die neuen Gaskraftwerke halten allerdings schon jetzt viele in der Energiebranche für sehr ambitioniert. Die Atomkraftwerke sind seit einem Jahr vom Netz - die Herausforderungen für Energiewende bleiben riesig.