"Bürgerlotterie" Bürgerrat zur Ernährungspolitik ausgelost
160 Bürgerinnen und Bürger sollen dem Bundestag Vorschläge zur Ernährungspolitik machen. Mit dem Bürgerrat sollen auch neue Formen der Beteiligung ausprobiert werden. In Berlin wurden die Teilnehmer ausgelost.
Im Bundestag sind die Mitglieder des ersten Bürgerrates ausgelost worden. Parlamentspräsidentin Bärbel Bas ermittelte in einer "Bürgerlotterie" die 160 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Sie sollen dem Bundestag bis Ende Februar kommenden Jahres Vorschläge zum Thema "Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben" machen.
Bürger sollen beraten, aber Abgeordnete entscheiden
Im Koalitionsvertrag hatten die Ampel-Fraktionen beschlossen, neue Formen von Bürgerdialogen zur politischen Beteiligung auszuprobieren, ohne dabei das Repräsentationsprinzip aufzugeben. Bas sagte, die Bürgerräte schafften Raum für Begegnungen unterschiedlicher Art, in dem jede und jeder persönliche Sichtweisen und Erfahrungen einbringen könne. "Diese Meinungsvielfalt bereichert die Demokratie und verschafft vor allen Dingen denen eine Stimme, die wir immer so als 'stille Mehrheit' bezeichnen."
Die Räte sollten aber nicht die parlamentarische Auseinandersetzung ersetzen: "Am Ende entscheiden und verantworten die Abgeordneten, welche Empfehlungen umgesetzt werden", sagte Bas. Bindend sind die Ergebnisse des Bürgerrates für die Abgeordneten nicht.
Von Tierwohl bis zu Steuern auf Lebensmittel
Inhaltlich sollen sich die Ratsmitglieder mit der Frage auseinandersetzen, wo der Staat in der Ernährungspolitik aktiv werden soll und wo nicht. So soll es etwa um Kennzeichnungen zur Umweltverträglichkeit und Tierwohlstandards gehen, aber auch um die Besteuerung von Lebensmitteln oder Lebensmittelverschwendung.
Zum 29. September soll das Gremium seine Arbeit aufnehmen. Geplant sind drei Wochenendtreffen und sechs digitale Sitzungen. Am 29. Februar 2024 dann soll der Rat dem Bundestag ein "Bürgergutachten" vorlegen.
Zusammensetzung soll Gesellschaft abbilden
Die 160 Mitglieder wurden dem Bundestag zufolge über ein mehrstufiges Verfahren ausgewählt, wodurch eine ausgewogene Besetzung sichergestellt werden soll.
Zunächst wurden demnach 20.000 Menschen ausgelost und eingeladen. 2.200 von ihnen meldeten sich zurück und wollten mitmachen. Aus ihnen habe dann ein Algorithmus 1.000 mögliche Zusammensetzungen des Bürgerrats ermittelt, bei denen auf die Verteilung nach Alter, Geschlecht, regionaler Herkunft, Ortsgröße und Bildungshintergrund geachtet worden sei. So seien 70 Prozent der Menschen, die sich zurückgemeldet hätten, Akademiker gewesen - im Bürgerrat sind sie jetzt mit 26 Prozent vertreten.
Da das Thema des Rats Ernährung ist, spielte auch der Anteil von Vegetariern und Veganern eine Rolle - ihr Anteil beträgt den Organisatoren zufolge zehn beziehungsweise 2,5 Prozent.
Ähnliche Modelle in anderen Ländern
Die Politikwissenschaftlerin Miriam Hartlapp bezeichnete Bürgerräte im Gespräch mit den tagesthemen als "sicher nicht das ideale Instrument", aber dennoch als eine Antwort auf das Problem, dass sich Bürgerinnen und Bürger in westlichen Demokratien nur ungenügend repräsentiert fühlen. Die Gremien versprächen eine diverse Abbildung der Bevölkerung, bei der die Menschen zu Wort kämen. Außerdem werde über die gemeinsame Kompromissfindung eine Erfahrung von Demokratie ermöglicht, so Hartlapp.
Hartlapp nannte Beispiele aus Kanada oder den Niederlanden, bei denen es um Wahlrechtsreformen gegangen sei - "ein Thema, an dem Politiker viel Eigeninteresse haben". Es sei vielleicht "ganz charmant, das auszulagern in ein Bürgerforum und dort darüber zu diskutieren." Sehr erfolgreich seien auch "citizen assemblies" in Irland gewesen, in denen es um Verfassungsreformen gegangen sei. Der Konsens sei dann per Referendum zur Abstimmung gebracht worden. Der Weg sei in Deutschland allerdings keine Option.
Union und AfD kritisieren, Linke mahnt
Kritik kam von Union und AfD. "Es braucht kein Alibi-Parlament, das per Los zusammengewürfelt ist", sagte die CDU-Politikerin Gitta Connemann. Götz Frömming von der AfD sagte, es gebe längst Bürgerräte, nämlich die Parlamente von Bund und Ländern. "Wir fordern die Einführung von bundesweiten Volksentscheiden statt dieser pseudodemokratischen Demokratiesimulation."
Jan Korte, Fraktionsgeschäftsführer der Linken, die den Ernährungsrat zusammen mit den Ampelfraktionen beschlossen hatte, bekräftigte die Einführung: Bürgerräte könnten helfen, "Interesse an der Politik und der Demokratie zu wecken und Partizipation zu ermöglichen". Allerdings dürften die Empfehlungen dann nicht in Koalitionstreit untergehen.
Viele Räte heißen Bürgerräte
Der Begriff Bürgerrat ist nicht klar definiert. So gab es vor zwei Jahren bereits den Bürgerrat Klima, der aber nicht vom Bundestag, sondern von einem Verein organisiert worden war und unter der Schirmherrschaft des früheren Bundespräsidenten Horst Köhler stand. In der vergangenen Woche legte zudem ein bundesweiter Bürgerrat Bildung Vorschläge für eine gerechtere Bildungspolitik vor.
In einer früheren Fassung hieß es, der Bürgerrat Klima habe unter der Schirmherrschaft Wolfgang Schäubles gestanden. Korrekt ist, dass Horst Köhler Schirmherr war.
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