Nach Ampel-Aus Wie arbeitsfähig ist der Bundestag noch?
Tagesordnungen fallen knapp aus, die kommende Sitzungswoche hat der Bundestag gleich komplett abgesagt. Offene Gesetzesvorhaben gäbe es noch genug. Wie arbeitsfähig ist das deutsche Parlament derzeit?
Die Besuchergruppen im Bundestag sind zum Teil weit gereist, um einmal den Berliner Politikbetrieb live zu erleben: eine Schulklasse aus dem Ruhrgebiet, dazu interessierte Gruppen aus Bayern und Nordrhein-Westfalen. Doch statt wortgewaltiger Parlamentsdebatten sehen sie: leere Gänge, leere Stühle und ein stilles Rednerpult. "Ich war noch nie in Berlin - es ist schade, dass wir das nicht mitbekommen", sagt Schüler Tom Wolf, 18 Jahre, vom Lessing-Gymnasium Bochum. "Das ist etwas enttäuschend", pflichtet ihm sein Politiklehrer Johannes Groß bei.
Normalerweise debattiert das Parlament an einem Sitzungstag mindestens bis zum Nachmittag, manchmal sogar bis in die Nacht hinein. Doch am Ende dieser Woche war nach zwei Tagesordnungspunkten schon am Vormittag Feierabend im Parlament.
Kommende Sitzungswoche abgesagt
Nach einer ersten, kurzen Debatte über die Tagesordnung wurde am Freitag zum ersten und einzigen Mal an diesem Tag abgestimmt: SPD, Grüne, FDP und Union beschließen, die kommende Sitzungswoche Ende November abzusagen.
Ursprünglich war vorgesehen, über den Haushalt des kommenden Jahres zu debattieren. Doch da im Streit über die Aufstellung des Haushalts die Ampel-Regierung zerbrochen ist, gibt es auch im Bundestag kein Haushaltsgesetz abzustimmen.
Schema zur Tagesordnung außer Kraft
Diese Sitzungswoche hätte man trotzdem nutzen können - wenn nicht für den Haushalt, dann für andere Debatten, kritisiert der Abgeordnete der Linken-Gruppe Christian Görke im Gespräch mit der ARD: "Es ist unverantwortlich, dass das Parlament sich eine freie Woche gönnt - bei den Problemen, die wir gerade in Deutschland haben." Dem widerspricht die Union. "Es gibt ja genügend Raum, um Debatten zu führen. Auch die Ausschüsse arbeiten voll und ganz", sagt Thorsten Frei, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion.
Ein geregeltes Verfahren, wie die Tagesordnung im Bundestag entsteht - und damit auch, wie Gesetze verabschiedet werden - ist derzeit außer Kraft gesetzt. "Und deswegen muss man Stück für Stück vorgehen, damit man nicht mit Zufallsmehrheiten Verhältnisse bekommt, die das Vakuum vollständig mit Chaos füllen."
Heißt: Bei jedem Gesetzesvorhaben, das es auf die Tagesordnung schaffen soll, muss einzeln geprüft werden, wie die Mehrheitsverhältnisse sind. Und auch ob es ein Thema überhaupt auf die Tagesordnung schafft, wird derzeit per Mehrheit abgestimmt.
Neben den Punkten, die derzeit diskutiert werden - Erhöhung des Kindergelds, Verlängerung des Deutschlandtickets, Steuererleichterungen - gibt es jedoch auch eine Reihe von Vorhaben, bei denen noch vollkommen unklar ist, ob und wann sie im Parlament beraten oder gar beschlossen werden.
Auch Kinderschutzgesetz betroffen
So hofft auch die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, auf ein Gesetz, auf das sie schon seit zwei Jahren hinwirkt. Das "Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen".
Hinter dem etwas sperrigen Titel verbergen sich eine Reihe von Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt. Eigentlich hatte Claus gehofft, dass das Gesetz diese Woche verabschiedet wird. Dann hätte sie am Montag, zum Europäischer Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexueller Gewalt, einen "Meilenstein im Kinderschutz" feiern können, so sagt sie. Das Gesetz war auch schon fertig verhandelt, es gab partei- und fraktionsübergreifende Einigkeit. Eine Anhörung im Familienausschuss war quasi die letzte Hürde. Doch auf der Tagesordnung im Bundestag stand es bislang nicht.
"Kinder und Jugendliche müssen verlässlich vor sexueller Gewalt geschützt werden, und das ressortübergreifende Denken in diesem Themenfeld muss gesetzlich endlich verankert werden", sagt Claus und fordert, das Gesetz zügig abzuschließen. Sie hofft, dass es im Frühjahr in Kraft treten kann.
Stillstand bis Dezember?
Auch die Union sieht die parteiübergreifende Einigkeit bei diesem Thema. Es müsse jedoch priorisiert werden, welche Vorhaben wirklich zeitkritisch sind und man sich politisch einigen könne. Und sowieso - für eine Zusammenarbeit mit der rot-grünen Minderheitsregierung ist man erst bereit, nachdem der Kanzler die Vertrauensfrage gestellt hat. Es sieht also nach parlamentarischem Stillstand aus, bis Mitte Dezember.