Claudia Roth und Heide Schinowsky, Leiterin der Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus

Roths Gedenkstättenkonzept Streit um die Zukunft des Erinnerns

Stand: 10.08.2024 15:14 Uhr

Die Zukunft der Gedenkstättenarbeit wird seit Monaten kontrovers diskutiert. Die Kritik an der geplanten Reform von Kulturstaatsministerin Roth fiel heftig aus. Im Kern geht es um künftige Schwerpunkte des Gedenkens.

Von Tina Handel, ARD Berlin

Das Internet vergisst wirklich nicht. Das musste Kulturstaatsministerin Claudia Roth in den vergangenen Monaten immer wieder erfahren. Nur einige Tage stand im Februar ein Dokument online, das ihr bis heute die Kritik Dutzender Gedenkstätten und Historiker einbringt. Monate später ist das Misstrauen längst noch nicht ausgeräumt.

In einem "Rahmenkonzept Erinnerung" legte Roth Anfang des Jahres dar, wie sie sich die Zukunft der Erinnerungskultur in Deutschland vorstellt. Seitdem sind Experten alarmiert: Was plant Roth in Sachen Gedenkstätten? Es geht nicht nur um inhaltliche, sondern auch um finanzielle Fragen, von denen viele bis heute offen sind. Noch liegt kein neues Konzept vor.

Neue Themen und Orte

Im Kern der Auseinandersetzung stehen die Schwerpunkte des geplanten Konzepts. Bislang gibt es zwei Hauptthemen: die Auseinandersetzung mit NS-Diktatur und SED-Unrecht. Roth regte in ihrem Papier an, "neue Themen und Orte der Erinnerung zu definieren". Zu den neuen Themen zählt sie den Kolonialismus, die deutsche Demokratiegeschichte sowie die Einwanderungsgesellschaft. Auch an die NSU-Morde müsste stärker erinnert werden, heißt es im Konzept.

Das sei ein "geschichtspolitischer Paradigmenwechsel", es gebe "gravierende Mängel", warfen ihr alle Dachverbände der Gedenkstätten daraufhin in ein einem Brief vor: NS-Terror und SED-Diktatur seien "staatlich verübte Massenverbrechen". Den Kolonialismus könne man durchaus auch so einordnen. Doch die anderen Themen "verwässern den klar definierten Bereich, für den die Bundesrepublik eine besondere Verantwortung hat". Rechtsextreme Morde von Einzeltätern dürften nicht gleichgesetzt werden mit Staatsverbrechen.

"Naiv", "kontraproduktiv" und "wirr"

Wer sich unter Gedenkstättenleitern umhört, bekommt noch anderes zu hören: Das Papier sei "naiv", "kontraproduktiv" oder "etwas wirr". Das Kulturstaatsministerium hätte lange kaum den Austausch gesucht, wollte wenig über das neue Konzept verraten. Plötzlich habe Claudia Roth im Februar das Papier veröffentlicht.

Längst hat Roth das Konzept zurückgezogen, es sei doch alles bloß ein "Denkanstoß" gewesen. Doch die Sorgen bleiben. "Wir hätten uns von Beginn an gewünscht, dass man mit uns spricht", sagt Jörg Ganzenmüller, Historiker und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Gedenkstätten zur Diktatur in SBZ und DDR. "Es ist gut, dass der Prozess neu aufgesetzt wird. Aber wir wissen eben noch nicht, was am Ende dabei herauskommt." Verabredet sei, "dass die Gedenkstättenkonzeption sich auf die nationalsozialistischen Verbrechen und das SED-Unrecht konzentriert", so Ganzenmüller.

Roths Rückzieher

Anfang Juni gab es eine Art Friedensgespräch, einen Runden Tisch im Kulturstaatsministerium. Weitere Gespräche sollen folgen. Man kann die dabei gefassten Beschlüsse so interpretieren: Roth macht einen Rückzieher, auch wenn sie das nicht so klar sagt. Die fünf Themensäulen werden nun getrennt bearbeitet - so klingt zumindest das Versprechen.

"Im neuen Konzept soll es um die Weiterentwicklung der bestehenden Gedenkstätten gehen", so formuliert es Jens Althoff, Sprecher der Staatsministerin. Das würde heißen, es bleibt bei den bisherigen Schwerpunkten Nationalsozialismus und DDR. "Parallel dazu wird es einen Prozess geben, der die anderen Themen beleuchtet", so Althoff. Dazu wolle man Wissenschaftler einladen.

Sorge um die Finanzierung

Den Aufschrei bei den Gedenkstätten führt das Kulturstaatsministerium noch auf einen anderen Grund zurück: "Offenkundig gab es bei den Gedenkstätten auch Sorge um die Finanzierung", sagt Althoff. Denn ein Gedenkstättenkonzept definiert Förderrichtlinien: Wer kriegt wofür Geld? Die Befürchtung ist, dass neue Erinnerungsorte und Projekte entstehen, aber insgesamt nicht mehr Mittel zugesagt werden - zu Lasten der bestehenden Struktur.

"Wenn mehr Aufgaben kommen und wir zudem die Digitalisierung stärker angehen, dann muss es Aufwüchse geben", sagt Jörg Ganzenmüller. "Das ist uns von Claudia Roth auch immer zugesichert worden." Er denkt zum Beispiel an Podcasts oder YouTube-Formate, mit denen Gedenkstätten sich in Onlinedebatten einbringen könnten.

Im bisherigen Haushaltsentwurf gibt es nun zumindest keine Kürzungen, Roths Etat bleibt etwa gleich. "Neue Themenfelder wären auch mit zusätzlichen Mitteln verbunden", verspricht Roths Sprecher, Jens Althoff, mit Blick in die Zukunft. Was am Ende herauskommt und was die nächsten Jahre bringen, scheint angesichts der ständigen Haushaltswirren aber völlig unklar. "Was die Finanzen angeht: Es liegt nicht an uns", beschwichtigte Roth im Juni im Kulturausschuss des Bundestags, als es um das neue Konzept ging. "Ich weiß, dass der Bedarf groß ist."

Gedenkstätten unter Druck

Die Gedenkstätten stehen wegen gestiegener Energie- und Personalkosten ohnehin unter Druck. Auch für Sicherheitsmaßnahmen müssen sie Geld einplanen. Eine Umfrage unter KZ-Gedenkstätten im vergangenen Jahr ergab, dass Vandalismus und rechtsextreme Angriffe zunehmen.

Hinzu kommt der bange Blick darauf, wer künftig in ostdeutschen Ländern mitregiert oder noch mehr Druck in Landesparlamenten macht. Denn Gedenkstätten werden zum großen Teil mit Landesgeld bezahlt. Der Bund gibt manchen Gedenkstätten dauerhaft Zuschüsse, anderen für bestimmte Projekte - aber oft nur, wenn das Bundesland kofinanziert. Wie würden AfD oder BSW damit umgehen?

Möglicher Einfluss von AfD oder BSW

"Wir sind für eine Erweiterung der Erinnerungskultur, insbesondere auf die positiven Aspekte unserer Geschichte", so fasste AfD-Mann Götz Frömming im Juni im Kulturausschuss die Haltung der Partei zusammen. Das klingt nicht so, als ob ehemalige Konzentrationslager die höchste Priorität genießen.

Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) gilt unter Gedenkstättenleitern als schwer einzuschätzen. "Einen gewissen Anlass zur Sorge gibt es durchaus", sagt Historiker Ganzenmüller. Einerseits ist Wagenknecht dafür bekannt, noch lange nach der Wende die DDR gelobt und die Mauer verharmlost zu haben. Andererseits hätte es rund um die Linke ähnliche Debatten gegeben, darauf weist Ganzenmüller hin: Man habe 2014 in Thüringen geglaubt, "eine von der Linkspartei geführte Landesregierung könnte zu einem tiefen Einschnitt in der Aufarbeitung der SED-Diktatur führen", sagt er rückblickend. "Diese Befürchtungen haben sich in Thüringen nicht bewahrheitet."

Besucherzahlen angestiegen

Im Herbst will Claudia Roth ihr neues Konzept im Bundestag vorstellen. "Wir hoffen, dass die demokratischen Parteien dabei einen Konsens finden", sagt Jörg Ganzenmüller. Das wäre ein wichtiges Signal, würde die Arbeit stärken. "Gedenkstätten sollten kein Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzung sein", sagt er.

Über eins immerhin brauchen sich die Erinnerungsorte nicht sorgen: mangelnden Zulauf. Die Besucherzahlen haben sich nach der Corona-Zeit deutlich erholt, vor allem in den großen Gedenkstätten. Nur müsse man inzwischen, etwa in Buchenwald, Besuchergruppen absagen, weil das Personal für Führungen fehlt - am Ende auch eine Geldfrage.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 07. Juni 2024 um 18:51 Uhr.