Bundesparteitag der Grünen Identitätskrise vor dem "Familientreffen"
Die Grünen stehen vor ihrem viertägigen Parteitag vor wichtigen Fragen: Macht die Ampel ohne genug Geld überhaupt Sinn? Und ist die Partei als Regierungspartner überhaupt noch gefragt?
Plötzlich ist sie wieder in aller Munde - auch bei den Grünen: "Die Große Koalition hat uns einen Rucksack voller Steine hinterlassen", sagte die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang ein paar Tage nach der Hessen-Wahl und vor dem eigenen Parteitag. Lang steht vor der grünen Wand in der Berliner Parteizentrale und steigert sich zu einer Anti-GroKo-Rede: Die Große Koalition habe jahrelang nicht vorgesorgt, Deutschland nicht krisenfest gemacht. Schwarz-Rot, das sei die "Rückkehr zum Modus der Realitätsverweigerung".
Mit jedem Satz wird klarer: Das Comeback der GroKo, wie es sich in Hessen abzeichnet, es treibt die Grünen um. Es hat sie vielleicht sogar kalt erwischt.
Zu wenig oder zu viel Kompromiss?
Sogar noch ein paar Grad kälter wurde es Mitte November mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das dem Ampel-Haushalt mal eben 60 Milliarden für Klimaprojekte und mehr entzieht. Beides stößt die Grünen unmittelbar vor dem eigenen Parteitag in die Identitätskrise: Macht die Ampel ohne genug Geld überhaupt noch Sinn? Warum sind wir kein begehrter Koalitionspartner mehr? Regieren Grüne um jeden Preis?
Die Grünen seien zu wenig kompromissbereit, sagen die einen, etwa CDU-Chef Friedrich Merz. Die Grünen seien viel zu geschmeidig und beliebig - das ist die Diagnose der anderen, vor allem der eigenen Basis. Und die rebelliert schon vor dem Parteitag mit zahlreichen Änderungsanträgen, besonders zur Migrationspolitik.
"Da brodelt es in der Partei"
"Ich gehe davon aus, dass es heftige Diskussionen gibt", sagt Katharina Stolla, Co-Vorsitzende der Grünen Jugend. "Da brodelt es in der Partei. Mir schreiben sehr viele Mitglieder, die kein Verständnis für diese Asylpolitik haben." Die Grüne Jugend will mit einem Antrag erreichen, dass der Parteispitze in Sachen Migration Ketten angelegt werden: Grüne Abgeordnete und Minister dürften, wäre der Antrag erfolgreich, keinen Asylrechtsverschärfungen zustimmen. Betroffen wären zum Beispiel die Leistungskürzungen, die der letzte Bund-Länder-Gipfel beschlossen hat. Kaum vorstellbar, dass die grüne Führung nach all den Debatten diese Beschlüsse wirklich zurückdreht.
Stolla und ihre Mitstreiter haben mit ihren Anträgen nicht nur die Parteibasis im Blick, sondern ebenso Initiativen, die den Grünen nahestehen: "Viele Menschen, die vor Ort mit Flüchtlingen arbeiten, fühlen sich im Stich gelassen." Es geht wohl auch darum, traditionell grüne Milieus nicht schon wieder zu enttäuschen. "Stabil bleiben", nennt es Stolla. Wenn der Parteitag 2022 dank Kohle- und Atomkraft-Kompromiss den Bruch mit der Klimabewegung aufgezeigt hat, so droht dieses Mal in Karlsruhe die nächste Entfremdung: Seenotretter und Flüchtlingshelfer könnten sich von "ihrer" Partei abwenden.
Wenig Zeit für aktuelle Debatten
Manches Mal konnten in der Vergangenheit grüne Minister die Halle mitreißen - und für Kompromisse gewinnen. Dieses Mal dürfte dem Spitzenpersonal ein besonderes Multitasking abverlangt werden: Während die Basis in Karlsruhe diskutiert, laufen parallel in ständig wechselnden Schalten und Telefonaten die Verhandlungen zum Milliarden-Haushaltsloch.
Doch einfach den Parteitag umwidmen für Findungsprozesse und Enttäuschungsmanagement - das geht nicht. Die Partei muss ihr Europawahlprogramm beschließen, dafür Kandidaten aufstellen. Auch die Wahl des Bundesvorstands und des Parteirats stehen an. Zeit für aktuelle Debatten ist nur am Donnerstagabend. Auf der Konferenz-Internetseite warnt die Parteitagsregie schon: "Damit ist unsere Tagesordnung voll." Auch das dürfte Mitglieder, die traditionell diskutierfreudig sind, erzürnen.
"Größtes grünes Familientreffen"
Es sei der "historisch größte Parteitag" bislang, heißt es aus der Parteizentrale. "Das größte grüne Familientreffen", frohlockt Parteichef Omid Nouripour. Vier Tage - so lange habe man noch nie debattiert. 825 Delegierte, Tausende Gäste - das sei Rekord. Auch die Sponsoring-Einnahmen dürften hoch sein. Unternehmen oder Verbände, die als Aussteller meist dafür bezahlen, auf einem Parteitag präsent zu sein, hätten Schlange gestanden, heißt es.
Auch wegen dieser Dimensionen hätte man, so Nouripour, nicht in die alte Karlsruher Stadthalle gehen können - die Halle, in der sich die Grünen 1980 gründeten. "Einfach zu klein", sagt Nouripour. Die Grünen sind rausgewachsen aus der Nischenpartei, soll das heißen.
Doch viele Anhänger wünschen sich genau das: mehr Rückbesinnung, mehr grüne DNA. Etwa 1.100 Mitglieder haben kurz vor dem Parteitag einen Offenen Brief unterschrieben, der dem Vorstand "schlechte Kompromisse" vorwirft. "Zurück zu den Grünen", heißt ihr Brandschreiben, pünktlich zum Treffen in der Gründungsstadt.