Unmut an der Parteibasis Enttäuschte grüne Hoffnungen
Kurz vor dem Bundesparteitag formulieren Teile der Parteibasis ihren Unmut über die Grünen-Spitze. Man sei Kompromisse eingegangen, die zentralen Werten widersprächen und dann als Erfolge dargestellt würden.
In einer Woche beginnt in Karlsruhe der Bundesparteitag von Bündnis90/Die Grünen. Jetzt formulieren Teile der Parteibasis ihren Unmut in einem Antrag zum Parteitag sowie einem Offenen Brief. Beides liegt dem ARD-Hauptstadtstudio vor.
Der Änderungsantrag, den die Grüne Jugend initiiert hat, soll die Parteispitze dazu verpflichten, keinen "weiteren Asylrechtsverschärfungen" zuzustimmen. Als Beispiele nennt das Papier die "Kürzung von Sozialleistungen für Geflüchtete" oder etwa die "Unterbringung von Flüchtenden in Außengrenzlagern". Damit greift der Antrag die Bund-Länder-Beschlüsse von Anfang November scharf an. "Weder grüne Minister*innen in Bund und Ländern noch grüne Fraktionen" dürften solche Schritte mitgehen, wenn sie beispielsweise in Parlamenten zur Abstimmung stehen, fordern die Unterstützer.
"Zurück zu den Grünen", so lautet die Überschrift eines anderen Papiers, das bis zum Mittwochabend rund 500 Mitglieder der Partei unterzeichnet haben. In dem Brief wird kritisiert, dass die Grünen in der Ampelkoalition eine Reihe von Kompromissen eingegangen sind, die den eigenen moralischen und politischen Grundsätzen widersprechen. Elina Schumacher aus dem Landesvorstand der Grünen Jugend in Berlin, die als eine der ersten den Brief unterschrieben hat, hebt die Grundwerte der Grünen in Sachen Klimaschutz und Migration hervor und empört sich über eine Regierung und zum Teil auch eine Bundestagsfraktion, "die scheinbar komplett konträr handelt".
"Werbeagentur für schlechte Kompromisse"
In dem Brief heißt es: Vor zwei Jahren habe man die Hoffnung gehabt, dass mit den Grünen nun endlich eine Partei in der Regierung sei, "die die Klimakrise ernst nimmt, die wertebasierte Migrationspolitik vorantreibt und wirklich einen Unterschied macht". Doch für die Autorinnen und Autoren des Briefes verbindet sich die Politik der Grünen mit einer Reihe von Enttäuschungen.
Explizit nennen sie die Entscheidung zum Abbaggern des Braunkohleorts Lützerath in Nordrhein-Westfalen, das 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr, die grüne Zustimmung zur Reform des Europäischen Asylsystems und die Kindergrundsicherung, "die effektiv keinem Kind aus der Armut helfen wird".
Zwar zeigen die Schreiber des offenen Briefs Verständnis dafür, dass in einer Koalition Kompromisse notwendig waren, doch sei man "schockiert", dass diese von grüner Seite jeweils als Erfolge verkauft wurden.
Im Brief formulieren sie ein scharfes Urteil: "Manchmal erscheint es uns, als ob die Grünen von einer Partei für echte Veränderung zu einer Werbeagentur für schlechte Kompromisse geworden sind." Mitunter spreche man von einer "SPD-isierung der Grünen" und meine damit, dass die Grünen auf Bundesebene wie eine Partei wirken, die alles mitträgt, um zu regieren.
Briefschreiber besorgt über Kritik von Mitstreitern
Die Schreiber des Briefes zeigen sich zudem besorgt darüber, dass die Grünen "immer lauter" von Gewerkschaften, der Klima- und Umweltbewegung, migrantischen Organisationen und weiteren kritisiert werden. Dabei habe die Partei immer gemeinsam mit diesen Verbänden, Vereinen und Initiativen für Veränderungen gestritten.
Enttäuschend sei auch der Umgang der Grünen mit den eigenen Mitgliedern. Es komme den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern immer häufiger so vor, "als ob es keinen Raum mehr für Kritik oder konstruktive Debatten" gibt. Angebrachte Kritik verpuffe oft. Sie bringe keine spürbaren Veränderungen.
Forderung nach Rückkehr zu mehr Basisdemokratie
In dem Brief sind zwei klare Forderungen formuliert. Zum einen sollten die grundlegenden Beschlüsse der Partei, insbesondere das Grundsatzprogramm, politische Leitlinien für den Bundesverband sein. Darüber hinaus sollte die Parteibasis stärker beteiligt werden. Bei richtungsweisenden Entscheidungen wünsche man sich Mitsprachemöglichkeiten davor, statt einer Moderation der Mitglieder danach.
Der Brandbrief wird genau eine Woche vor Beginn des Bundesparteitags in Karlsruhe öffentlich. Er soll vor allem dabei helfen, Gleichgesinnte innerhalb der Partei zu vernetzen, sagt Elina Schumacher von der Grünen Jugend Berlin. Sie gehörte bereits im Umfeld der Räumung des Braunkohleorts Lützerath in Nordrhein-Westfalen zu den Initiatorinnen eines Offenen Briefs an den grünen Bundeswirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck und seine nordrhein-westfälische Amtskollegin Mona Neubauer.
Darüber hinaus gehe die Botschaft raus an den Bundesvorstand, um zu sagen: "Hey, aber wir sind unzufrieden. Lass uns darüber reden." Auf dem Parteitag wollen sich die Grünen unter anderem mit der Migrationspolitik und dem Wahlprogramm für die Europawahl im nächsten Jahr beschäftigen.
Der Offene Brief der Basis lässt erahnen: Es stehen kontroverse Debatten auch über das Selbstverständnis der Partei ins Haus.