Corona-Impfdurchbrüche Geimpft und doch im Krankenhaus
Auf den Intensivstationen liegen immer mehr Corona-Patienten, die bereits vollständig geimpft sind. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Impfstoffe nicht mehr schützen.
Die Fakten sind eindeutig: Rund zehn Prozent der Intensivpatienten, die zwischen Mitte August und Anfang September vom Robert Koch-Institut registriert wurden, waren geimpft. Seither ist dieser Anteil noch einmal gestiegen, die aktuellsten Zahlen des RKI stammen aus der Zeit vom 13. September bis zum 10. Oktober. In diesem Zeitraum liegt die Quote bei 20,3 Prozent. In absoluten Zahlen: 181 von 891. Zwischen Anfang Februar und Anfang September war der Anteil der Geimpften noch deutlich niedriger: 210 von 11.419 laut RKI - das entspricht 1,84 Prozent.
Woher kommt dieser Anstieg? Zum großen Teil beruht er schlicht auf der Tatsache, dass immer mehr Menschen geimpft sind. Bernd Salzberger, Professor am Universitätsklinikum Regensburg und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie, wundern die steigenden Zahlen nicht sonderlich: "Je mehr Leute wir geimpft haben, desto mehr müssen ja unter den Auftretenden Infektionen dann auch Durchbruchinfektionen sein. Denn wir wissen leider, dass die Impfung eben auch nicht 100 Prozent schützt", sagt er im Gespräch mit tagesschau.de.
Je höher die Impfquote, desto mehr Impfdurchbrüche
Deswegen sagen Experten seit Monaten, dass der Anteil der Geimpften an den Krankenhaus- und Intensivpatienten steigen wird. Der Grund ist simpel: Der Corona-Impfstoff wirkt nicht zu 100 Prozent, sondern mittlerweile, grob vereinfacht, zu 80 bis 90 Prozent.
Steigt nun der Anteil der Geimpften in der Bevölkerung an, werden zwar insgesamt weniger Menschen krank - das ist auch deutlich zu beobachten. Allerdings wird der Anteil der Geimpften an den Erkrankten nach und nach immer höher. Weil es eben immer weniger Nicht-Geimpfte gibt. Das RKI verdeutlicht das mit einem Rechenbeispiel auf seiner Seite: "Wenn alle Personen einer Population geimpft sind - die Impfquote also bei 100 Prozent liegt - beträgt der Anteil der Impfdurchbrüche an den Erkrankten 100 Prozent."
Mit anderen Worten: Wären theoretisch eines Tages 100 Prozent der Menschen in Deutschland geimpft, würden immer noch viele krank, ein Teil von ihnen müsste auch ins Krankenhaus. Irgendwann lägen im Krankenhaus nur noch Geimpfte. Ein großer Teil des Anstiegs beruht somit laut RKI auf einem rein statistischen Effekt.
Delta-Variante verschlechtert Impfschutz
Dazu kommt mittlerweile ein weiterer wichtiger Faktor: die Delta-Variante. Sie ist deutlich ansteckender und vermindert erstmal den Schutz aller Impfstoffe - zumindest vor Ansteckung. "Mit dem alten Impfstamm hatten wie einen 95-prozentigen Schutz vor einer Neu- oder Durchbruchsinfektion", erklärt der Infektiologe Salzberger. "Jetzt mit der Delta-Variante ist dieser Schutz schlechter, er liegt nur noch bei ungefähr 80 Prozent. Und das bedeutet einfach auch, dass wir jetzt viermal so viele Durchbruchsinfektionen haben. Das wirkt sich zahlenmäßig aus."
Allerdings ist der Schutz vor einem schweren Verlauf immer noch deutlich besser als 80 Prozent. Nach einer aktuellen Übersichtsstudie aus Frankreich, die die Daten von 22 Millionen Menschen ausgewertet hat, schützen die Impfstoffe im Schnitt zu rund 90 Prozent vor einem Krankenhausaufenthalt.
Das ist nach wie vor ein gutes Ergebnis - auch wenn sich die Quote noch etwas verschlechtern dürfte, weil zu Beginn des Erhebungszeitraums die Delta-Variante noch nicht überall vorherrschend war.
Impfdurchbrüche vor allem bei geschwächtem Immunsystem
Salzberger verweist zudem auf einen weiteren wichtigen Aspekt: Aus seiner Sicht haben so gut wie alle Patienten, die trotz Impfung auf die Intensivstation kommen, bereits im Vorfeld ein schweres Immundefizit. Das gleiche sagt Gernot Marx, Professor und Klinikdirektor in Aachen und Präsident der Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, kurz DIVI: "Die allermeisten, die einen sogenannten Impfdurchbruch haben, sind entweder über 80, und deswegen funktioniert ihr Immunsystem nicht mehr so gut. Oder sie sind über 60 und haben zusätzlich eine schwere Erkrankung. Zum Beispiel Krebs oder irgendeine andere Erkrankung, die das Immunsystem zusätzlich schwächt."
Bei etlichen dieser Patienten liegen zudem die Impfungen schon länger zurück, weil sie früh geimpft wurden, sagt Marx. Er plädiert daher für diese Gruppen für eine Booster-Impfung, also eine Auffrischung. Ebenso auch für das Krankenhauspersonal: "Dazu gehören offen gestanden auch diejenigen, die die Patienten tagtäglich versorgen. So wie ich selbst auch. Auch ich habe das Angebot unseres Hauses angenommen und bin ein drittes Mal geimpft."
Bereits infizierte Zellen werden durch T-Zellen, umgangssprachlich auch T-Killerzellen, einfach zerstört. Eine Ausbreitung der Krankheit im Körper wird verhindert.
Der zweite wichtige Teil der Immunreaktion sind sogenannte Gedächtniszellen. Solche gibt es sowohl bei den für Antikörperbildung verantwortlichen B-Zellen als auch bei den T-Zellen. Nach einer Infektion bildet der Körper diese Gedächtniszellen, die Information über einen Erreger wie SARS-CoV-2 in sich tragen. Bei einer erneuten Infektion können sie innerhalb eines Tages die Immunreaktion starten, Antikörper produzieren und spezifische T-Zellen bilden. So kann das Virus schnell bekämpft werden. Auch bei SARS-CoV-2 scheint das so zu sein, vermuten Forscherinnen und Forscher. Sie konnten zeigen, dass Genesene T-Gedächtniszellen bilden, die lange im Körper verbleiben.
Wann ist die dritte Spritze sinnvoll?
Die von Marx propagierte Booster-Impfung empfiehlt mittlerweile auch die Ständige Impfkommission (STIKO) für immer mehr Bevölkerungsgruppen. Zunächst galt die Empfehlung für Menschen mit geschwächtem Immunsystem ("Immundefizienz"). Anfang Oktober hat die STIKO diese Empfehlung erweitert auf Pflegepersonal, medizinisches Personal mit Patientenkontakt, Menschen ab 70 und Bewohner und Betreute in Pflegeheimen, auch wenn sie noch jünger sind als 70 Jahre.
Grundsätzlich soll frühestens sechs Monate nach Abschluss der vollständigen Immunisierung - also nach der zweiten Spritze - die dritte erfolgen. Nur für Menschen mit schwerer Immundefizienz empfiehlt die STIKO die dritte Impfdosis bereits vier Wochen nach der zweiten. Die Impfung ist für die Bürger kostenlos, genauso wie die ersten beiden Dosen. Der Bund bezahlt den Impfstoff, Ländern und Krankenkassen finanzieren die Impfzentren.
Hat die dritte Impfung möglicherweise neue Nebenwirkungen?
Bislang sind nach der Booster-Impfung in der Regel nicht mehr Nebenwirkungen oder Impfreaktionen bekannt als bei den ersten Vakzinierungen. In den USA, wo bereits mehr als zwei Millionen Menschen eine dritte Dosis bekommen haben, sind einige lokale Reaktionen nach der dritten Dosis etwas häufiger aufgetreten. Unter anderem Schmerzen an der Einstichstelle.
Christoph Spinner, Infektiologe und Pandemiebeauftragter des Klinikums Rechts der Isar der TU München, sagte im tagesschau.de Interview, dass er die Nebenwirkungen für vergleichbar hält, mit denen der ersten beiden Spritzen: "Tatsächlich sind die Nebenwirkungen im Bereich dessen, was man von den ersten Impfungen kennt. Also es gibt gerade bei der Boosterung mit Biontech-Impfstoffen keine Hinweise darauf, dass es zum Beispiel zu signifikant mehr Reaktiogenität (Anm.: Ausmaß der Impfreaktion) oder anderen Nebenwirkungsprofilen kam."
Welcher Impfstoff wird für die Drittimpfung empfohlen?
Grundsätzlich empfiehlt die STIKO für die mögliche Booster-Impfung einen mRNA-Impfstoff - also das Vakzin von Biontech oder Moderna. Diese Empfehlung gilt auch für die, die zunächst den Vektorimpfstoff von AstraZeneca bekommen haben. Wer, wie die meisten, schon bei den ersten beiden Impfungen einen mRNA-Impfstoff bekommen hat, sollte bei diesem Präparat bleiben.
Der Impfstoff von Johnson und Johnson sollte eigentlich schon nach einer Dosis den vollständigen Schutz bieten. Andererseits hat er insgesamt die schlechteste Schutzwirkung aller zugelassenen Impfstoffe. Deshalb empfiehlt die STIKO hier grundsätzlich eine weitere Dosis mit einem mRNA-Impfstoff.
Nach aktuellem Stand gibt es keine maßgeblichen Expertinnen oder Experten, die die Auffrischung für jede und jeden empfehlen. Vereinfacht zusammengefasst: Weil sie bei normalem Immunstatus noch nicht notwendig ist. Und weil es wichtiger sei, zunächst die Impfquote in ärmeren Ländern zu erhöhen.
Hundertprozentigen Schutz gibt es nicht
Aber egal, ob zweimal oder sogar dreimal geimpft - auch Menschen mit vollständiger Immunisierung können an Corona sterben. Darauf weist Salzberger ausdrücklich hin. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit gerade bei Jüngeren sehr gering. Laut RKI beträgt der Schutz vor einer Infektion mit tödlichem Verlauf bei Menschen unter 60 Jahren 99 Prozent. Bei den Älteren immer noch 90 Prozent. "Es ist ganz klar, eine Durchbruchsinfektion kann im schlimmsten Fall tödlich verlaufen", sagt der Immunologe. "Das sehen wir in diesem Herbst, das sehen wir in einigen Fällen. Es ist trotzdem so, dass ein Großteil der Durchbruchsinfektionen sehr viel leichter verläuft als bei Menschen, die noch nicht genesen und nicht geimpft sind."
DIVI-Präsident Marx dreht Salzbergers Beispiel um. Er erinnert an die überwiegend Nicht-Geimpften, die auf den Intensivstationen liegen: "Wir sehen viel mehr jüngeren Patienten unter 60, die sehr schwer krank sind, von denen wir nicht alle retten können. Bei der überwiegenden Mehrzahl dieser Menschen wäre das nicht notwendig gewesen, wenn sie eben vollständig geimpft gewesen wären."