Wahlrechtsreform Die Nachteile sind hinnehmbar
Ein hundertprozentig gerechtes Wahlrecht gibt es nicht. Die Wut der Opposition ist verständlich, dennoch ist die Wahlrechtsreform vernünftig. Sie macht die Demokratie ein bisschen stabiler.
Eine derart engagiert und gleichzeitig erbittert geführte Auseinandersetzung hat der Bundestag in den vergangenen Jahren selten erlebt. Kein Wunder, ging es doch um Grundfragen demokratischer Gerechtigkeit - und für mindestens zwei der im Bundestag vertretenen Parteien sogar um ihre künftige parlamentarische Existenz.
Die heutige Debatte hat erneut gezeigt: Ein 100 Prozent gerechtes Wahlrecht gibt es nicht, jede Veränderung bringt Vor- und Nachteile, kann gleichzeitig sinnvoll und unfair sein. Das gilt auch für das Wahlrechtsgesetz, das die Ampelkoalition heute gegen den Widerstand der Opposition durchgesetzt hat.
Sitzverteilung spiegelt Wahlergebnis
Dabei geht die Reform von SPD, Grünen und FDP durchaus in die richtige Richtung: Sie garantiert ein kleineres Parlament mit einer festen Zahl an Abgeordneten, stellt sicher, dass die Verteilung der Sitze auf die einzelnen Parteien das Gesamtergebnis einer Bundestagswahl genau widerspiegelt und bewahrt gleichzeitig den besonderen Status der Wahlkreiskandidaten - auch wenn die künftig etwas höhere Hürden nehmen müssen, um ein Mandat zu erringen.
Von der Fünf-Prozent-Hürde sollen jetzt nur noch Vertreter nationaler Minderheiten ausgenommen werden. Das könnte sowohl die CSU als auch die Linke aus dem Bundestag fegen. Deshalb ist die Ablehnung, ja die Wut der Oppositionsparteien verständlich.
Vorzug für das Verhältniswahlrecht
Die verabschiedete Reform ergibt dennoch Sinn, weil sie einen Zielkonflikt ausgleicht, den die Mütter und Väter des Grundgesetzes so nicht vorhersehen konnten: Dass die gleichrangige Kombination aus Mehrheitswahlrecht (in Wahlkreisen) und Verhältniswahl (über Kandidatenlisten) bei vier bis fünf etwa gleich starken Parteien im System nur noch dann funktioniert, wenn man das Parlament mit Überhang- und Ausgleichsmandaten immer weiter aufbläht.
Wenn das nicht gewollt ist - und zumindest in dieser Hinsicht sind sich die meisten Akteure einig - muss man sich festlegen, welches Wahlprinzip Vorrang haben soll. Die Ampel will im Konfliktfall dem Verhältniswahlrecht den Vorzug gegeben. Das ist vernünftig, denn es macht künftige Bundestagswahlen transparenter und berechenbarer - in Zeiten ausgeprägter gesellschaftlicher Konflikte und wachsender Parteienverdrossenheit ein nicht zu unterschätzender Vorteil.
Die Nachteile, die vor allem mittelgroßen Parteien dadurch entstehen, sind groß. Aber sie sind hinnehmbar, wenn sie dazu beitragen, unsere Demokratie ein bisschen stabiler zu machen.