Christine Lambrecht und Boris Pistorius
Analyse

Ex-Verteidigungsministerin Woran Lambrecht gescheitert ist

Stand: 28.03.2023 12:08 Uhr

Mit einem Großen Zapfenstreich wird Ex-Verteidigungsministerin Lambrecht nun auch offiziell verabschiedet. An Selbstvertrauen hat es ihr nicht gefehlt. Was bleibt von ihrer kurzen Amtszeit?

Eine Analyse von Mario Kubina, ARD Berlin

Ein windiger Tag im Januar. Christine Lambrecht steht auf dem Gelände der Erzgebirgskaserne in Sachsen. Den Reißverschluss ihres Lederblousons hat sie bis zum Hals hochgezogen. Die Verteidigungsministerin lässt sich von Panzergrenadieren erst zeigen, was der dort stationierte Schützenpanzer "Marder" kann. Dann erklären ihr Soldaten, wie die Panzerabwehrwaffe funktioniert, mit der der "Marder" ausgestattet ist. Lambrecht hört sich das ohne erkennbare Regung an. Es ist ihr letzter Truppenbesuch als Ministerin.

Vier Tage später gibt sie ihr Amt auf. Vor die Kameras will sie da nicht mehr treten. Das Verteidigungsministerium verschickt nur ein paar dürre Zeilen. In der Mitteilung begründet Lambrecht ihren Rückzug damit, dass die "monatelange mediale Fokussierung auf meine Person […] eine sachliche Berichterstattung und Diskussion über die Soldatinnen und Soldaten, die Bundeswehr und sicherheitspolitische Weichenstellungen" kaum noch zulasse. Damit macht Lambrecht letztlich die Medien für ihr Scheitern verantwortlich.

5000 Helme als "deutliches Signal" an Ukraine

Dabei hat sie ihren Kritikern schon früh Angriffsfläche geboten: Wenige Wochen vor dem russischen Überfall verspricht Lambrecht der Ukraine 5000 Helme - und will das als "ganz deutliches Signal" an das bedrohte Land verstanden wissen: "Wir stehen an eurer Seite." Doch angesichts der militärischen Übermacht Russlands, die sich zu diesem Zeitpunkt an den ukrainischen Grenzen aufbaut, erscheint vielen die Ankündigung als völlig unzureichend. Später liefert Deutschland auch Waffen: erst Panzerfäuste und Flugabwehrraketen, dann Artilleriegeschütze und Flakpanzer. All das fällt in Lambrechts Amtszeit, aber es nützt ihr politisch nichts.

Denn die Entscheidungen über Waffenlieferungen werden im Kanzleramt getroffen - und nicht im Verteidigungsministerium. Das Gleiche gilt für den weitreichenden Beschluss, die Bundeswehr mithilfe eines 100-Milliarden-Euro-Programms zu modernisieren. Der Politikwissenschaftler Carlo Masala folgert im Rückblick daraus, dass Lambrecht als Verteidigungsministerin "nur bedingt eine eigenständig handelnde Akteurin" gewesen sei: "Da sind sicherlich Fehler gemacht worden, aber nicht alle Fehler kann man ihr zuschreiben."

Ein "verlorenes Jahr" für die Bundeswehr

Dennoch spricht Masala mit Blick auf die ausstehende Modernisierung der Truppe von einem "verlorenen Jahr". Lambrechts entscheidender Fehler sei es gewesen, vor großen Reformen zurückzuschrecken und es bei "kleineren Veränderungen" im Beschaffungswesen zu belassen. "Das war angesichts des Zustands der Bundeswehr die falsche Entscheidung", sagt der Militärexperte von der Münchner Bundeswehr-Uni.

Tatsächlich hat Lambrecht dem Ministerium keine umfassende Strukturreform verordnet, sondern lediglich erste Schritte eingeleitet. Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung, dass Kommandeure nun bis zu 5000 Euro freihändig ausgeben können - also ohne aufwendiges Verwaltungsverfahren. Auch mit dem sogenannten Beschaffungsbeschleunigungsgesetz sollte mehr Tempo ins System kommen. Doch in der Bundeswehr herrscht immer noch Mangelwirtschaft - mehr als ein Jahr nach der sogenannten Zeitenwende-Rede des Kanzlers.

Noch kein Cent bei Bundeswehr angekommen

Die Truppe habe "von allem zu wenig", stellt die Wehrbeauftragte des Bundestags, Eva Högl, vor Kurzem bei der Präsentation ihres aktuellen Jahresberichts fest. Der Report liest sich wie die Bilanz der gut einjährigen Amtszeit von Lambrecht. Einer der wichtigsten Punkte des Berichts: Im gesamten Jahr 2022 sei noch kein Cent aus dem 100-Milliarden-Programm bei der Bundeswehr angekommen.

Eine Entwicklung, die sich lange vor Lambrechts Rücktritt abzeichnet. Zwar gibt der Bundestag Ende vergangenen Jahres Mittel für die ersten milliardenschweren Projekte aus dem Sondervermögen frei, darunter moderne Kampfjets und neue Transporthubschrauber. Doch es wird zum Teil noch etliche Jahre dauern, bis das Gerät bei der Bundeswehr ankommt.

Waffensysteme "nicht beim Baumarkt im Regal"

Einerseits liegt das in der Natur der Sache - zumindest ein Stück weit. Lambrecht selbst verweist während ihrer Zeit im Bendlerblock immer wieder auf die Komplexität von Waffensystemen wie Panzern oder Kampfflugzeugen. Solches Gerät könne man eben "nicht einfach beim Baumarkt aus dem Regal herausholen", ruft sie in einer Bundestagsdebatte der Opposition zu. Andererseits bleiben unter ihrer Führung Dinge liegen, die in Anschaffung und Produktion deutlich weniger komplex sind.

Der Munitionsmangel etwa ist seit Langem bekannt. Fachleute schätzen den Bedarf auf einen zweistelligen Milliardenbetrag. Doch Lambrecht versäumt es, rechtzeitig Geld zu mobilisieren, um die Lücken in den Depots zu füllen. Im November schreibt sie an den Finanzminister, er möge bitte "jetzt unmittelbar in signifikantem Umfang Haushaltsmittel" für diesen Zweck bereitstellen. Christian Lindner aber, der ja nicht nur einem Ministerium, sondern auch der FDP vorsteht, sieht in dem Schreiben eine Chance: nämlich die, der Sozialdemokratin eine Niederlage zu bereiten.

Unglücklicher Briefwechsel mit dem Finanzministerium

Lindner nutzt die Gelegenheit, indem er die Kabinettskollegin über einen seiner Staatssekretäre daran erinnert, "dass Sie die hier angeführte Notwendigkeit der Munitionsbeschaffung weder bei der Verhandlung zum Sondervermögen […] noch im Zuge des parlamentarischen Verfahrens zum Ausdruck gebracht haben". Schnell macht der Briefwechsel in Berlin die Runde. Damit steht Lambrecht wie eine Ministerin da, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat.

Für die Opposition ist im Herbst längst klar, dass Lambrecht eine Fehlbesetzung ist. So fordert etwa der CDU-Abgeordnete Johann Wadephul die SPD-Politikerin während der Haushaltswoche im Bundestag auf, ihren Posten aufzugeben. Und manche Journalisten haben ihr Urteil noch früher gefällt: "Die Null-Bock-Ministerin" lautet eine "Spiegel"-Schlagzeile vom Mai. Der Artikel listet Lambrechts Pannen und Versäumnisse auf - von der Sache mit den Helmen über mangelnden Reformeifer bis hin zum Helikopterflug mit dem Sohn.

So lang ist die Liste schon damals, dass sich viele in Berlin verwundert die Augen reiben. Schließlich kann Lambrecht bis zum Amtsantritt im Wehrressort auf eine erfolgreiche Karriere verweisen: als Anwältin, Bundestagsabgeordnete und Justizministerin.

Verunglücktes Silvestervideo

Eine Zeit lang hält sie noch an der Spitze des Verteidigungsministeriums durch. Doch nach dem Jahreswechsel zieht sie die Reißleine. Das berühmte Silvestervideo im einsetzenden Berliner Feuerwerk und die beißende Kritik daran geben scheinbar den Ausschlag. Doch allein ein verunglücktes Video wäre ihr wohl kaum zum Verhängnis geworden. "Hätte sie einen vernünftigen Job gemacht", sagt der Militärexperte Masala, dann hätte eine Kommunikationspanne wie diese keinen solchen "medialen Aufschrei hervorgerufen". So aber hat Lambrecht auf beiden Ebenen Anlass zu Kritik gegeben: in der Außendarstellung und in der Sache.

Die Modernisierung der Bundeswehr mag unter Lambrecht nicht so vorangekommen sein, wie sich das angesichts der veränderten Sicherheitslage viele gewünscht hätten: Doch auch von dieser Oberkommandierenden verabschiedet sich die Bundeswehr mit einem Großen Zapfenstreich, wie es eben Brauch ist. Deshalb hat die Ex-Ministerin am Dienstagabend nochmal einen öffentlichen Auftritt im Bendlerblock. Lambrecht darf sich - wie ihre Vorgängerinnen und Vorgänger - die drei Musikstücke aussuchen, die bei der Zeremonie gespielt werden. So also geht eine politische Laufbahn zu Ende, die zuletzt vor allem von Rückschlägen geprägt war: als Wunschkonzert.

Mario Kubina, Mario Kubina, ARD Berlin, 27.03.2023 19:22 Uhr
Großer Zapfenstreich
Der Große Zapfenstreich ist die höchste Form militärischer Ehrerweisung deutscher Soldatinnen und Soldaten. Die rund einstündige Zeremonie hat eine lange Tradition und wird nur zu ganz besonderen Anlässen aufgeführt.

Die Ursprünge des Zapfenstreichs liegen in der Zeit der Landsknechte des 16. Jahrhunderts. Damals gab ein Truppenführer in Gasthöfen und Tavernen mit einem Streich auf die Zapfen der Getränkefässer den Beginn der Nachtruhe bekannt - daher der Name "Zapfenstreich". Danach durften die Wirte nicht mehr an die Soldaten ausschenken. Im Laufe der Jahrhunderte wurde dieses Signal durch Trompeten-, Flöten- und Trommelspiel musikalisch angereichert. 

Der Große Zapfenstreich der Bundeswehr besteht heute aus dem "Locken" der Spielleute, dem Auftritt des Musikkorps und der berittenen Truppen, einem Gebet und der Nationalhymne. Gespielt werden auch persönlich ausgewählte Musikstücke der oder des Geehrten. 

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete BR24 am 28. März 2023 um 10:07 Uhr.