Christian Lindner
Analyse

Ein Jahr Krieg in der Ukraine Der Preis der Zeitenwende

Stand: 22.02.2023 17:57 Uhr

"Wumms" und "Doppel-Wumms", drei Entlastungspakete, ein Sondervermögen, die Energiepreisbremse: Das vergangene Jahr war teuer für Bundesfinanzminister Lindner. Im Rückblick bereut er einige Entscheidungen.

Eine Analyse von Nicole Kohnert und Lothar Lenz, ARD-Hauptstadtstudio

Als die SMS vom Überfall auf die Ukraine auf seinem Handy erschien, war Christian Lindner auf dem Weg ins Bundesfinanzministerium. Für den frühen Morgen waren bereits Gespräche angesetzt, denn schon vor der russischen Invasion hatte sich die Bundesrepublik verpflichtet, der Ukraine wirtschaftlich zu helfen.

"Natürlich habe ich bei den ersten Eilmeldungen vor allem an das Grauen für die Menschen in der Ukraine gedacht", erinnert sich Lindner im Gespräch mit dem ARD-Hauptstadtstudio. "Aber sehr bald wurde auch klar, dass die Ukraine jetzt noch weit mehr Unterstützung brauchen würde und wir auch unsere Anstrengungen für die Bundeswehr vergrößern müssen."

Wie groß diese Anstrengungen dann tatsächlich werden würden, wie viele Debatten über militärische Unterstützung, über Sondervermögen für die Bundeswehr und über Hilfsprogramme für die Bürgerinnen und Bürger es am Ende sein würden, das konnte natürlich auch Lindner vor einem Jahr noch nicht absehen. Und ebenfalls nicht, was dieser Krieg für seinen Etat bedeuten würde.

Christian Lindner, Bundesfinanzminister, im Gespräch zum Jahrestag des Russischen Angriffskrieges auf die Ukraine

Krisenbewältigung bestimmte die Tagespolitik

Der 24. Februar vergangenen Jahres ließ den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP zunächst zur Nebensache werden. Pragmatismus und eine Fülle von Einzelentscheidungen traten an die Stelle politischer Programmatik. "Fahren auf Sicht" nannten das so manche in der Ampelregierung.

Durch den Kriegsbeginn selbst, durch das Drehen am Gashahn von Russland Präsidenten Wladimir Putin und im Gegenzug durch die Sanktionen gegen Russland verteuerten sich schlagartig die Preise für fossile Energie - mit entsprechenden Folgen vor allem für einkommensschwache Haushalte in Deutschland. Krisenbewältigung bestimmte von nun an die Tagespolitik. Immer neue Verordnungen und Gesetze mussten beraten, geschrieben und erlassen werden, in manchen Berliner Ministerien brannte das Licht rund um die Uhr.

Mit dem Beginn des Ukraine-Kriegs wurde zugleich deutlich, dass auch die Vorstellungen der drei Berliner Koalitionsparteien zur Haushaltspolitik unterschiedlicher nicht sein konnten. Die Schuldenbremse ab 2024 wieder einzuhalten und Steuererhöhungen auszuschließen - das war das Credo, mit dem FDP-Chef Christian Lindner Wahlkampf gemacht hatte und schließlich sein Amt als Bundesfinanzminister antrat.

Vielzahl von Entlastungsmaßnahmen

Nun aber öffneten sich alle Schleusen: 100 Milliarden Euro werde Deutschland in die Modernisierung der Bundeswehr stecken, verkündete Bundeskanzler Scholz wenige Tage nach Putins Angriff im Bundestag. Und die staunende Öffentlichkeit lernte gleich noch, dass das Wort "Sondervermögen" nur eine Umschreibung für neue Schulden ist.

Und dabei blieb es nicht: Parallel dazu stieg die Inflation auch in Deutschland auf ein seit Jahrzehnten nicht mehr gekanntes Maß - das Leben wurde spürbar teurer für alle.

Die Ampel ließ sich deswegen eine Vielzahl von Entlastungsmaßnahmen einfallen und schnürte daraus drei Pakete: Direktzahlungen an Berufstätige und Sozialhilfeempfänger, einen befristeten Steuernachlass auf Benzin und Diesel, das Neun-Euro-Ticket, mit dem Millionen Deutsche drei Monate lang Busse und Bahnen bundesweit benutzen konnten, mehr Kindergeld, höheres Wohngeld, Heizkostenzuschüsse und vieles mehr. All das kostete ebenfalls - weitere knapp 100 Milliarden Euro verschlangen die Entlastungspakete I bis III.

Zäher Weg zur Energiepreisbremse

Mit dem Wissen von heute, sagt Finanzminister Lindner gegen über dem ARD-Hauptstadtstudio, würde er diese Einzelschritte allerdings so nicht mehr wiederholen. "Man hätte all diese Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen auf wenige große Maßnahmen konzentrieren sollen", ist der Finanzminister überzeugt. Statt vieler kleiner Entlastungen, an die sich die Bürgerinnen und Bürger heute nicht einmal mehr erinnern könnten, hätte sich die Bundesregierung auf durchgreifende Schritte wie die Strom- und Gaspreisbremse konzentrieren sollen.

Doch auch der Weg zu dieser Energiepreisbremse war ein zäher innerhalb der Koalition. Musste sich Wirtschaftsminister Robert Habeck doch von der Idee einer Gasumlage verabschieden - ein auch innerhalb des Bundeskabinetts am Ende umstrittenes Konzept, das Energieunternehmen vor der Pleite retten sollte.

Finanzminister Lindner wiederum widerstand Ambitionen vor allem der SPD, eine Übergewinnsteuer für Energiekonzerne einzuführen und damit Profite abzuschöpfen, die durch die höheren Energiepreise entstehen.

Verteilungskampf um die Haushaltsmittel

Am Ende des Streits stand einer der vielen Ampelkompromisse: Eine Abschöpfung von sogenannten Zufallsgewinnen speziell bei Stromerzeugern - eine gesichtswahrende Entscheidung, von der Beobachter allerdings kaum erwarten, dass sie die erhofften Mehreinnahmen in die Staatskasse spült.

Und die ist durch die Entwicklung von Inflation und Zinsniveau ohnehin zusätzlich belastet: Für alle neuen Schulden (und einen Teil der bereits bestehenden) muss der Bund jetzt deutlich höhere Zinsen bezahlen. Die Zeit des billigen Geldes ist auch für den Bundesfinanzminister erst mal vorbei.

Der Verteilungskampf um die Haushaltsmittel für die Zukunft hat bereits begonnen - und er wird entsprechend härter werden. Lindner machte bereits deutlich, dass er von seinem fiskalpolitischen Credo - Einhaltung der Schuldenbremse und Verzicht auf Steuererhöhungen - nicht abweichen wolle.

Um das zu untermauern, brachte er erstaunlich geräuschlos auch ein Herzensprojekt auf den Weg, den Ausgleich der "kalten Progression" bei der Einkommensteuer: Beschäftigte, die zum Beispiel bei der nächsten Tarifrunde einen deutlichen Lohnzuwachs erhalten, sollen dadurch nicht automatisch in einen höheren Steuertarif rutschen - es bleibt mehr Netto vom Brutto.

Lindner sieht Alarmsignale

Bei seinem kategorischen "Nein" zu Steuererhöhungen geht es dem Bundesfinanzminister aber nicht nur um abhängig Beschäftigte, sondern auch um die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrieunternehmen selbst. Denn die Betriebe und Konzerne mussten seit Kriegsbeginn ebenfalls hohe Energiepreise schlucken, Lieferkettenprobleme lösen, sich vom Gas unabhängiger machen.

Mehrfach sprachen die Verbände bei Kanzler Scholz, bei Wirtschaftsminister Habeck und eben auch bei Finanzminister Linder vor. Das Wort von der "De-Industrialisierung" Deutschlands machte die Runde - als Folge gestiegener Produktionskosten drohen Werksschließungen und Arbeitsplatzabbau.

In einem Land, das mehr als ein Drittel seiner Wirtschaftskraft und seiner Arbeitsplätze dem Export verdankt, sieht Lindner hier Alarmsignale. Steckt doch die deutsche Wirtschaft ohnehin bereits in einem gigantischen - und teuren - Umbauprozess durch die Dekarbonisierung, also die Umstellung auf CO2-freie Produktionsmethoden.

Kurs strenger Haushaltsdisziplin

Doch Lindner rechnet weiterhin mit Widerständen gegen seinen Kurs strenger Haushaltsdisziplin: "Der Appetit nach zusätzlicher Umverteilung ist selbst in unserem vollausgestatteten Sozialstaat enorm", sagt Lindner dem ARD-Hauptstadtstudio. "Wir können gar nicht so viel Geld einnehmen, die Menschen können gar nicht so viel Geld erwirtschaften, wie ein Teil der Politik ausgegeben will."

Gemeint sind etwa die Grünen, die das Projekt "Kindergrundsicherung" aus dem Koalitionsvertrag bald umsetzen wollen - zu noch nicht ganz klaren Kosten. "Ich habe immer angekündigt, dass wir mit Blick auf kommende Generationen die Schuldenaufnahme reduzieren müssen", hält Lindner allen zusätzlichen Ausgabewünschen der Koalitionspartner entgegen: "Jetzt wird's ernst."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 22. Februar 2023 um 10:00 Uhr.