Bundesverfassungsgericht
analyse

Erstarken extremer Parteien Mehr Schutz für das Verfassungsgericht?

Stand: 30.01.2024 15:37 Uhr

Politiker der Ampelparteien wollen das Bundesverfassungsgericht mit einer Grundgesetzänderung stärker vor möglichen Entmachtungsversuchen schützen. Auch die Union ist offen dafür. Worum geht es?

Eine Analyse von Frank Bräutigam und Michael-Matthias Nordhardt, ARD-Rechtsredaktion

"Jetzt mal angenommen, es käme einer." Mit diesem Satz beginnt der Artikel "Ein Volkskanzler" auf der Plattform "Verfassungsblog" aus dem Jahr 2019. Autor ist der Gründer des Fachportals, der Jurist und Journalist Maximilian Steinbeis.

Das Szenario: Ein demokratisch gewählter Bundeskanzler, der auf keinen Koalitionspartner angewiesen ist, "kapert" mit seiner Regierungsmehrheit auf legalem Weg das Bundesverfassungsgericht und lässt es so für seine politischen Ziele arbeiten.

Änderungen lieber frühzeitig prüfen

Ganz neu ist die inhaltliche Debatte über diese Fragen also nicht. Es geht auch nicht um eine akute Gefährdung des Gerichts heute oder morgen. Doch der Artikel wirkt bis heute nach. Und die aktuelle politische Lage sowie weitere Artikel aus der juristischen Fachwelt haben der Diskussion Rückenwind gegeben.

Neu ist nun, dass das Thema auch im politischen Berlin konkret aufgegriffen wird. Außerdem gilt: Mögliche Verfassungsänderungen sollte man lieber frühzeitig prüfen. Und nicht erst dann, wenn es bereits brennt.

Verfassungsgerichte können ins Visier geraten

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben nach den Erfahrungen der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus eine ganze Reihe von Sicherungen ins Grundgesetz eingebaut. Darunter ist die "Ewigkeitsklausel", nach der die tragenden Säulen der Verfassung (Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaat, Bundesstaat) überhaupt nicht geändert werden dürfen.

Andere Dinge können nur mit einer Zweidrittelmehrheit verändert werden. Hinzu kam eine neue Kontrollinstanz mit vielen Befugnissen: das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Doch was, wenn diese Kontrollinstanz ins Wanken geraten würde? Dann würden die Sicherungen im Grundgesetz nicht viel nützen. Das Szenario vom "Volkskanzler" und der Blick ins Ausland, zum Beispiel nach Ungarn oder Polen, zeigen: Verfassungsgerichte sind oft das erste Angriffsziel populistischer Regierungen.

Aufgaben des Verfassungsgerichts stehen in der Verfassung

Was ist wo geregelt zum Bundesverfassungsgericht? Auf den ersten Blick ist das eine trockene, formale Frage. Auf den zweiten Blick ist es aber der Knackpunkt der Diskussion. Im Grundgesetz selbst, also der Verfassung, sind in Artikel 93 die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts geregelt. Also dass es zum Beispiel über Verfassungsbeschwerden und Streit zwischen Staatsorganen urteilt.

Für eine Änderung des Grundgesetzes bräuchte man eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Das ist eine hohe Hürde.

Viele Fragen rund um die Organisation des Gerichts und die Wahl der Richterinnen und Richter sind aber nicht im Grundgesetz, sondern im "Bundesverfassungsgerichtsgesetz" geregelt. Also in einem "normalen" Gesetz. Das kann der Gesetzgeber mit einer einfachen Mehrheit ändern (die der "Volkskanzler" im Szenario hat). Die Hürden sind also niedriger.

Gefahr von rechts - Diskussion um Stärkung des Bundesverfassungsgerichts

Claudia Kornmeier, ARD Berlin, tagesthemen, 30.01.2024 22:15 Uhr

Was "mehr Schutz" bedeuten würde

"Mehr Schutz" oder "absichern" bedeutet also hier: Weitere zentrale Regeln zum Bundesverfassungsgericht ins Grundgesetz aufzunehmen, damit man diese nur mit Zweidrittelmehrheit verändern kann.

Die Organisation des Gerichts und die Richterwahl sind deshalb so schützenswert, weil sich über diese vermeintlichen Formalien großer Einfluss auf die Arbeit des Gerichts und seine zentrale Aufgabe nehmen lässt: die Kontrolle aller Staatsorgane.

Beispiele: Wahl und Amtszeit der Richter

Zum Beispiel ist "nur" im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt, dass die Richterinnen und Richter (die eine Hälfte vom Bundestag, die andere vom Bundesrat) mit einer Zweidrittelmehrheit gewählt werden müssen. Zweck dieser Vorschrift ist es, dass die Regierungsmehrheit nicht einfach "ihre" Kandidatinnen und Kandidaten nach Karlsruhe schicken kann. Sondern dass ein gewisser Konsens mit den anderen Parteien nötig ist.

Weiteres Beispiel: Nach seiner Amtszeit von zwölf Jahren oder zum Ende des 68. Lebensjahres ist eine Wiederwahl laut Gesetz nicht möglich. Das gewährleistet Unabhängigkeit, weil sich kein Richter eine mögliche Wiederwahl durch genehme Entscheidungen "verdienen" kann und muss.

Zwei oder drei Senate am Gericht?

Auch die Aufteilung in zwei Senate mit je acht Richterinnen und Richtern ist gesetzlich geregelt und wäre mit einfacher Mehrheit veränderbar. Ein zentraler Punkt im Szenario vom "Volkskanzler" ist daher, dass in Karlsruhe ein "Dritter Senat" geschaffen würde, der - von der Regierungsmehrheit dominiert - über Streitigkeiten zwischen Staatsorganen entscheiden würde.

Das sind seit vielen Jahrzehnten politisch hochbrisante Themen in Karlsruher Urteilen. Und auch, dass alle Staatsorgane an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gebunden sind und diese in vielen Fällen Gesetzeskraft haben, ist nicht direkt in der Verfassung geregelt.

Wenn ja - wie viele Änderungen?

Ist man für das "ob" einer besseren Absicherung offen, dürfte für die weitere Diskussion wichtig sein: Welche Punkte sollte man ins Grundgesetz schreiben? Möglichst viele? Nur die wichtigsten? Welche wären das genau?

Ehemalige Verfassungsrichterinnen und -richter sowie Staatsrechtler haben sich in Interviews und Artikeln dazu unterschiedlich geäußert. Man müsste diesen Punkt jedenfalls genau durchdenken. Denn die mögliche Kehrseite einer Regelung im Grundgesetz wäre, dass man bei künftigen Änderungen, aus welchem Grund auch immer sie erfolgen sollten, weniger flexibel ist.

Blockade bei Richterwahl verhindern

Eine weitere, durchaus aktuelle Frage betrifft erneut die Wahl der Richterinnen und Richter - unabhängig davon, wo sie geregelt ist. Was passiert, wenn eine Partei zumindest so stark würde, dass sie das Zustandekommen der nötigen Zweidrittelmehrheit für die Richterwahl verhindern kann? Man nennt das auch eine "Sperrminorität". Ein Szenario, das derzeit realistischer ist als das vom "Volkskanzler".

So eine Sperrminorität könnte zu einer Blockade bei der Besetzung neuer Richterstellen führen, und das Gericht zumindest indirekt lahmlegen. Auf welchem Weg und über welche Gremien man so eine Situation auflösen könnte, wäre ein wichtiger Baustein eines möglichen Gesetzgebungsverfahrens.

Politischer Konsens nötig

Fazit: Bei diesem Thema geht um zentrale Fragen des Rechtsstaates. Es sind inhaltlich dicke Bretter, die eine sorgfältige Prüfung verlangen. Für Entscheidungen wäre ein großer Konsens in Bundestag und Bundesrat nötig. Denn für eine Aufnahme weiterer Regeln rund ums Bundesverfassungsgericht ins Grundgesetz wäre eine Zweidrittelmehrheit nötig.

Während das Szenario vom "Volkskanzler" schon seit 2019 auf dem Tisch liegt, hat der "Verfassungsblog" seit einigen Monaten einen weiteren Schwerpunkt gesetzt. Beim "Thüringen-Projekt" geht es um die Analyse möglicher Schwachstellen in den Landesverfassungen. Mit Blick auf die Landtagswahlen im Herbst dürfte bei diesem Thema der Zeitdruck größer sein.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 30. Januar 2024 um 16:00 Uhr.