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Bundesverfassungsgericht Karlsruhe kippt das neue Wahlrecht in Teilen

Stand: 30.07.2024 03:54 Uhr

Am Vormittag verkündet Karlsruhe sein mit Spannung erwartetes Urteil zur Wahlrechtsreform der Ampel. Etwa zwölf Stunden vorher kursierte die komplette Entscheidung kurzzeitig im Internet: Die Fünf-Prozent-Klausel ohne Ausnahmen ist verfassungswidrig.

Von Kolja Schwartz und Frank Bräutigam, ARD-Rechtsredaktion

Im März 2023 hat der Bundestag mit den Stimmen der Ampelkoalition ein neues Wahlrecht beschlossen. Ziel der Reform war es, die ständige Vergrößerung des Bundestags durch sogenannte Überhang- und Ausgleichsmandate zu stoppen. Künftig soll der Bundestag eine feste Größe von 630 Abgeordneten haben. Zum Vergleich: Im aktuellen Bundestag sitzen 734 Bundestagsabgeordnete.

Systemwechsel der Sitzverteilung mit dem Grundgesetz vereinbar

Die Basis der Reform wird vom Bundesverfassungsgericht nicht moniert. Die Ampel hatte folgendes beschlossen: Nach wie vor wählen die Menschen mit der Erststimme einen Bewerber in ihrem Wahlkreis. Die Bewerber mit den meisten Stimmen kommen aber nicht mehr automatisch in den Bundestag.

Denn das führte in der Vergangenheit dazu, dass manche Parteien mehr Sitze im Bundestag hatten, als ihnen nach dem Zweitstimmenergebnis eigentlich zustanden. Diese sogenannten Überhangmandate führten dann wiederum zu Ausgleichsmandaten. So wurde der Bundestag immer größer. 

Nach der Reform kommen nur noch so viele Direktkandidaten in den Bundestag, wie es der Partei nach dem Ergebnis der Zweitstimmen zusteht. Manche Direktkandidaten bekommen also nach diesem sogenannten Zweitstimmendeckungsverfahren keinen Sitz im Parlament, auch wenn sie in ihrem Wahlkreis die meisten Erststimmen erhalten.

Darin sehen die Richterinnen und Richter keinen Verstoß gegen die Verfassung. Vielmehr sei es vom Spielraum des Gesetzgebers gedeckt, dies so zu entscheiden. Wahlkreisabgeordnete seien auch nicht "Delegierte ihres Wahlkreises", sondern Vertreter des ganzen Volkes. Das neue "Zweitstimmendeckungsverfahren" führe zu einer Verteilung der Sitze im Bundestag nach dem Wahlergebnis für die Partei. Dies sei bei dem Modell der Ausgleichsmandate im Ergebnis nicht anders gewesen.

Fünf-Prozent-Klausel ohne Ausnahmen verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat nun einen der Punkte der Wahlrechtsreform gekippt. "Die Fünf-Prozent-Klausel ist in ihrer geltenden Form mit dem Grundgesetz nicht vereinbar", heißt es im Urteil. Nach der Sperrklausel kommen nur die Parteien in den Bundestag, die bundesweit mehr als fünf Prozent der Zweitstimmen erlangen. Zwar gab es diese Sperrklausel schon lange vor der Wahlrechtsreform, die Ampel hatte aber eine entscheidende Ausnahme abgeschafft: die sogenannte Grundmandatsklausel. Danach zogen Parteien auch mit einem Wahlergebnis unter fünf Prozent in den Bundestag ein, wenn sie mindestens drei Direktmandate in Deutschland errungen hatten. 

Die Richterinnen und Richter betonen zwar in der Entscheidung, dass eine Fünf-Prozent-Klausel grundsätzlich geeignet sei, um die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments zu garantieren. Denn: Sie verhindere eine Zersplitterung des Parlaments. Allerdings führe die Klausel dazu, dass nicht alle Stimmen in Deutschland einen gleichen Wert haben - alle die eine Partei gewählt haben, die nicht fünf Prozent schaffen, fallen unter den Tisch. Deswegen müsse man sie so ausgestalten, dass sie nicht über die erforderliche Sicherung hinausgehe.

Am Beispiel der CSU erläutert Karlsruhe, was gemeint ist. Eine Sperrklausel ohne Ausnahmen könne dazu führen, dass die Partei nicht im Bundestag vertreten sei. Weil ihr bayerisches Stimmenergebnis auf ganz Deutschland umgerechnet wird und sie so unter fünf Prozent landen könnte. Dies sei für die Funktionsfähigkeit des Bundestages aber keinesfalls erforderlich, weil die CSU ohnehin mit der CDU eine gemeinsame Fraktion bildet und beide zusammen klar über der Fünf-Prozent-Hürde liegen. Könnten in einem solchen Fall die Zweitstimmenergebnisse beider Parteien gemeinsam berücksichtigt werden, wäre das ein ebenso gut geeignetes aber milderes Mittel um eine Zersplitterung zu verhindern.

Bisher sicherte die Grundmandatsklausel, dass die CSU sicher sein konnte, immer in den Bundestag zu kommen, weil sie bisher immer eine große Zahl von Direktmandaten erlangte. 

Gesetzgeber hat mehrere Möglichkeiten das Wahlrecht anzupassen

Das Bundesverfassungsgericht sagt in seinem Urteil, dass der Gesetzgeber einen weiten Spielraum hat, das Urteil umzusetzen. Er hat also mehrere Möglichkeiten, auf die Entscheidung zu reagieren und das Wahlrecht mit Blick auf das Thema "Sperrklausel" zu ändern. Neben einer besseren Berücksichtigung von Kooperationen zweier Parteien könne man die Sperrklausel auch insgesamt absenken, oder sie zusammen mit einer Grundmandatsklausel beibehalten.

Bundesverfassungsgericht schafft Übergangslösung

Bis zur kommenden Bundestagswahl im September 2025 ist nicht mehr viel Zeit. Grundsätzlich soll ein Jahr vor einer Wahl feststehen, nach welchen Regeln gewählt wird. Deswegen hat das Gericht zur Sicherheit selbst eine Übergangsregel mit Bezug auf das Thema "Sperrklausel" angeordnet. Bis zu einer Neuregelung in diesem Punkt gilt die Fünf-Prozent-Hürde fort, und zwar kombiniert mit der Grundmandatsklausel; also dass eine Partei mit dem Ergebnis ihrer Zweitstimmen in den Bundestag einzieht, wenn sie drei Direktmandate gewonnen hat. Die neuen Regeln zur Mandatsverteilung, die zu einer Begrenzung der Sitze im Bundestag führen, gelten ohnehin. Sie hat das Gericht ja gebilligt.

Viele Klagen in Karlsruhe

Im April wurden in Karlsruhe gleich mehrere Klagen gegen das neue Wahlrecht verhandelt. 195 Abgeordnete aus der CDU/CSU-Fraktion, das Land Bayern, die Parteien CSU und die Linke, die Fraktion die Linke und mehrere tausend Verfassungsbeschwerden. Um 10 Uhr wird das Urteil im Bundesverfassungsgericht verkündet.

Gigi Deppe, SWR, tagesschau, 30.07.2024 05:46 Uhr