Nach Missbrauchsskandal Marx stellt "Gesamtsystem" Kirche infrage
Vor etwa zwei Monaten deckte das Missbrauchsgutachten das Ausmaß des Skandals in der katholischen Kirche auf. Nun hat sich Kardinal Marx mit Betroffenen getroffen - die ganz konkrete Forderungen formulierten.
So ein Treffen kann nicht in einer Kirche stattfinden, auch nicht im Pfarrsaal. In ein kirchliches Gebäude können manche Betroffene keinen Fuß mehr setzen. Also trifft man sich in Sichtweite der Münchner Frauenkirche in einem kleinen Theatersaal, dem Künstlerhaus am Lenbachplatz. Neutrales Terrain. Und ein Kardinal, der vor allem zuhört.
"Ich habe zehn Jahre darauf gewartet, dass Sie mich ansprechen, dass Sie mir helfen, dass Sie mich unterstützen. Heute bin ich da ihnen zu helfen", sagt Richard Kick vom Betroffenenbeirat des Erzbistums München.
Vor zwei Wochen noch hatte er Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, in einem offenen Brief aufgefordert, die Opfer sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche endlich "empathisch wahrzunehmen" und in persönlichen Kontakt mit ihnen zu treten. Das Treffen am Abend ist ein Schritt aufeinander zu und der Versuch "alles zu tun, dass wir auf Augenhöhe miteinander reden können", sagt Kick. "Das ist die Grundvoraussetzung dafür, als Betroffener das Gefühl zu haben: Ich werde ernst genommen. Und man hört das, was ich sage."
Fast 500 Opfer, mehr als 230 mutmaßliche Täter
Das Münchner Missbrauchsgutachten hatte vor zwei Monaten weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Nicht nur wegen der Zahlen: Die Gutachter sprechen von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern.
Es geht auch um Verantwortung. Münchner Erzbischöfe - darunter auch der spätere Papst Benedikt XVI. - haben sich im Umgang mit Missbrauchsfällen falsch verhalten, heißt es im Gutachten.
Nachdenklich, fast kleinlaut
Nach diesem Befund zeigt sich der Amtsinhaber nachdenklich, fast kleinlaut. 2010 habe er nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals zum ersten Mal das Gespräch mit Betroffenen gesucht, sagt Marx.
Heute sehe ich es noch radikaler als damals. Dass durch diese Diskussion auch das Gesamtsystem in Frage steht von seinen Grundlagen her.
Grundsätzlich wird es, als die Betroffenen sich zu Wort melden. Einer fordert neutrale Ansprechpartner, neutrale Orte, an die sich Opfer wenden können, weil sie eben jedes Vertrauen in die Kirche verloren haben. Und immer wieder die Forderung nach Entschädigung, nach konkreter Unterstützung. "Auch wenn mir von dem Bistum geholfen wird, muss ich sagen: Meine Therapiekosten werden seit einem geschlagenen Jahr nicht bezahlt. Warum werde diese Versprechungen nicht eingehalten?", kritisiert einer der Betroffenen.
Für Offenheit als "Nestbeschmutzer" beschimpft
Und dann gibt es noch Biographien wie diese: Thomas Semel wurde als junger Ministrant in der Kirche missbraucht. Heute arbeitet er als Priester für diese Institution. Und muss täglich einen Spagat bewältigen, wie er berichtet:
Ich gehöre der Kirche als Amtsträger an. Gleichzeitig gehöre ich zu den Betroffenen, die in Loyalitätskonflikten stehen, die sich gegenüber ihren Mitbrüdern als Nestbeschmutzer rechtfertigen müssen, wenn sie nach außen treten und davon erzählen.
Auch Semel engagiert sich heute im Betroffenenbeirat des Erzbistums, streitet mit seiner Kirche um Anerkennung und Aufklärung, hat aber nicht mit ihr gebrochen.
Regelmäßige Treffen mit Betroffenen geplant
Nach dem gut zweistündigen Treffen sagt Kardinal Marx: "Das macht mir doch Hoffnung, dass doch viele da sind - das ist sicher nicht bei allen der Fall - die weiterarbeiten wollen. Die sagen: 'Trotzdem. Wir machen weiter, weil uns der Glaube wichtig ist, weil uns das Evangelium wichtig ist und die Gemeinschaft der Kirche.'"
Die Treffen mit Betroffenen, die noch mit der Kirche und ihren Vertretern reden wollen, sollen von nun an regelmäßig stattfinden. Es gibt noch viel Gesprächsbedarf.