Europa-Experte Wessels im Interview "Bei der Energiepolitik kann man etwas bewegen"
Die Erwartungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 sind hoch. Der Europawissenschaftler Wessels erwartet vor allem beim Thema Energiepolitik Akzente. Den Umgang mit der Verfassung nennt er dagegen einen "Eiertanz".Mit tagesschau.de sprach Wessels über die Erfolgschancen der deutschen Präsidentschaft und die Entscheidungsprozesse in der Union.
tagesschau.de: Von der Bekämpfung der Cyberkriminalität über die Energiepolitik und den Bürokratieabbau bis zu einer neuen Grundsatzerklärung der „europäischen Werte“: Die Bundesregierung hat sich für ihre Ratspräsidentschaft eine ganze Menge vorgenommen. Ist so eine lange Liste für sechs Monate überhaupt sinnvoll?
Wessels: Viele von Deutschland genannte Politikfelder, gerade die Energiepolitik, sind schon Themen, die für alle Mitgliedsstaaten von nachhaltigem Interesse sind. Da kann man etwas weiterbewegen. Beim Bürokratieabbau bin ich skeptisch: Regelungen auf europäischer Ebene müssen eine Menge Dinge berücksichtigen und sind dadurch häufig nicht einfach - aber die meiste Bürokratie liegt nicht in Brüssel, sondern auf Länderebene. Mit dem EU-Verfassungsvertrag, der auch auf der Liste der Bundesregierung steht, wird man sich noch mühsam auseinandersetzen müssen. Hier fehlt Deutschland auch über lange Zeit der Präsidentschaft ein wichtiger Partner, weil in Frankreich Wahlkampf ist.
Wolfgang Wessels ist Professor für Politikwissenschaft und einer der führenden Europaspezialisten in Deutschland. Er lehrt an der Universität Köln.
tagesschau.de: Aber die Bundesregierung hat sich doch noch einmal ausdrücklich für die europäische Verfassung ausgesprochen.
Wessels: Es ist ein Eiertanz: Zunächst wollte die Bundesregierung sich weiter für die Verfassung in der jetzigen Form einsetzen. Nun heißt es, es gehe zumindest um den Verfassungsvertrag „in seiner politischen Substanz“. Die ursprüngliche, harte Position wird damit schon aufgeweicht - meines Erachtens zurecht. Man muss nach Lösungen suchen, wie man die wesentlichen Inhalte des Vertrags rettet und diese dann auch durchsetzen kann. Das der Verfassungsvertrag in der jetzigen Form nicht noch einmal in Frankreich und in den Niederlanden für eine Volksabstimmung vorgelegt wird und in Großbritannien nicht einmal in den Ratifizierungsprozess kommen wird, scheint mir klar.
tagesschau.de: Ein Ratspräsidentschaft dauert nur ein halbes Jahr: Ist das nicht zu kurz, um Entscheidungen auf den Weg zu bringen?
Wessels: Man muss zwischen den verschiedenen Politikbereichen unterscheiden: Soweit es die erste Säule, also die EG betrifft, klappt die Entscheidungsfindung - weil hier auch die Kommission eine entscheidende Rolle spielt. Gravierend spüren wir die Mängel in der Außen- und Sicherheitspolitik, also der zweiten Säule. Dort spielt die Präsidentschaft eine viel wichtigere Rolle, sie muss Vorschläge einbringen und die Union nach außen vertreten. Das ist ein Problem, gerade wenn die neueren Mitglieder die Ratspräsidentschaft übernehmen, die wenig internationale Erfahrung haben, wie etwa Slowenien im ersten Halbjahr 2008. Die EU hat versucht, dieses Problem mit dem Hohen Repräsentanten Javier Solana zu ändern - aber er ist eben noch kein Außenminister, sondern nur ein hoher Beamter.
Die Europäische Union basiert seit dem Vertrag von Maastricht 1992 auf drei Säulen. Die erste Säule umfasst alle Verträge der EG von Agrarpolitik über Forschung und Verbraucherschutz bis zum Zoll. In diesem Bereich wird sehr stark zusammengearbeitet, die EU hat große Kompetenzen. Bei der zweiten Säule (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) und der dritten Säule (Polizei und Justiz) liegen die Hauptkompetenzen hingegen bei den Mitgliedsstaaten, die erheblich loser zusammenarbeiten.
Tagesschau.de: Viele Experten hatten davor gewarnt, dass die EU ohne den Verfassungsvertrag kaum mehr entscheidungsfähig sei. Jetzt gibt es keine Verfassung, dafür aber ab 2007 mit Bulgarien und Rumänien noch zwei neue Mitglieder. Wann kommt der Kollaps?
Wessels: Die große Blockade, die einige befürchtet haben, ist bisher noch nicht eingetreten. Bei den Abstimmungen im Ministerrat, der Vertretung der EU-Mitgliedstaaten, habe ich bisher den Eindruck, dass trotz der Erweiterung von 15 auf 25 vieles relativ normal weiterläuft. Nun ist die Zeit vielleicht zu kurz, um Entwarnung zu geben, aber andererseits muss man aufpassen, dass man die Union nicht totredet, in dem man sagt "Das kann ja gar nicht klappen“. Im Augenblick kann man auch mit 27 Mitgliedsländern weitermachen.
Die Fragen stellte Fiete Stegers, tagesschau.de