Ein Jahr nach Hanau-Attentat Das endlose Leiden der Angehörigen
Das Leiden der Opfer-Angehörigen von Hanau ist auch ein Jahr nach dem Attentat quälend wie am Tag danach. Sie fühlen sich alleingelassen, manche haben einfach keine Kraft mehr.
Wir waren uns in dieser Nacht auf der Straße begegnet. Salam Hashemi war völlig aufgelöst, bat mich, ihn zum Krankenhaus zu fahren, in dem sein Sohn Etris angeschossen lag. Ich war als Reporter in Hanau, versuchte zu dem Zeitraum, zu verstehen, was hier gerade geschehen war. Auf der Fahrt machte ich dem besorgten Vater noch Mut: Es gäbe bestimmt einen ganz harmlosen Grund, warum er Nesar, seinen anderen Sohn, nicht erreichen könne.
Am nächsten Morgen war dann jedoch klar: Ein Sohn ist tot, der andere schwer verletzt. Getroffen von einem rassistischen Mörder, der in seinem Hass neun Menschen erschoss.
Vor einem halben Jahr sind wir uns wieder begegnet. Da erzählte mir der Vater, dass er oft nicht schlafen könne und dann leise aus der Wohnung schleiche, weil ihn die Bilder der Nacht nicht losließen. Er wolle seinen anderen Kindern doch ein Halt sein. Sie sollten ihn nicht auf und ab gehen sehen.
Einfach nicht mehr die Kraft, um darüber zu reden
Jetzt kann Salam Hashemi nicht mehr darüber reden. Er ist schwerkrank und hat einfach nicht mehr die Kraft dazu.
"Ich kann gar nicht glauben, dass es schon ein Jahr her ist", sagt seine Tochter Saida. "Es kommt uns allen vor, als ob es gestern erst passiert wäre. Die Welt ist einfach stehen geblieben."
Etris Hashemi kam nach einer Notoperation und drei Wochen Krankenhaus wieder nach Hause. "Man wird von einem Film in einen anderen gesteckt und kommt nicht mehr heraus aus diesem Film", sagt er.
Seine Mutter hebt viele Dinge des ermordeten Sohnes auf. Manchmal glaubt sie, ihn im Treppenhaus noch zu hören.
Sprachlosigkeit bis heute
Vieles, was in der Tatnacht und danach geschah, macht die Angehörigen der Opfer bis heute sprachlos. So war der Polizei-Notruf nicht erreichbar. Der 22-jährige Vili-Viorel Păun verfolgte den Attentäter am Abend des Anschlags vom ersten Tatort in der Innenstadt bis hierher an den zweiten Tatort. Das zeigen Bilder von Überwachungskameras. Während dieser Verfolgung versuchte Păun immer wieder, die Polizei zu alarmieren. Doch er erreichte die Polizei nicht - ebenso wenig wie andere Zeugen. Die Notrufzentrale war offenbar unterbesetzt. Der Täter erschoss seinen Verfolger am zweiten Tatort.
Gut 300 Meter entfernt von der Familie Hashemi entfernt wohnte der Täter. Er tötete erst seine Mutter, bevor er sich in der Nacht dann selbst erschoss. Sein Vater lebt noch in dem Haus, glaubt an die große Staatsverschwörung gegen seinen Sohn, beleidigt die Opfer, indem er sich ebenfalls rassistisch äußert. Er fordert die Waffen seines Sohnes zurück, will, dass dessen Internetseite wieder freigeschaltet wird und die Gedenkorte an die Opfer seines Sohnes in der Stadt weggeräumt werden.
Etris und andere Angehörigen der Ermordeten fühlen sich bedroht.
Die Welt sei seit dem Anschlag "einfach stehen geblieben", sagt Saida Hashemi.
Gefährderansprache nach dem Krankenhausaufenthalt
"Als ich damals aus dem Krankenhaus herausgekommen bin, habe ich eine Gefährderansprache bekommen von der Polizei. Dass ich keine Straftat begehen soll, dass ich mich nicht rächen soll und dass ich die Füße stillhalten soll“, sagt Etris. "Ich habe das damals auch als Beleidigung angesehen." Für ihn sei es selbstverständlich, dass er in diesem Land keine Straftat begehe. "Und dann bekommen wir nach Monaten, fast einem Jahr mit, dass der Vater sich rassistisch äußert."
Die Angehörigen wollen, dass man ihnen zuhört, wollen von den Behörden ernst genommen werden. Von der Polizei fühlen sie sich allein gelassen. Denn auch mit einem Auto könne der Vater viel Unheil anrichten, wenn er nur wolle.
Etris Hashemi kämpft immer noch mit den Folgen seiner Verwundung. An der Schulter muss er demnächst noch einmal operiert werden.
Er und sein Freund Piter sind oft in den Räumen der "Initiative 19. Februar Hanau". Ein Treffpunkt für die Angehörigen. In der Tatnacht suchten sie beide Deckung hinter einem Tresen. Da steckte in Etris' Hals schon eine Kugel, Piter blieb unverletzt. "Etris hat seinen Bruder verloren und das auch noch mitangesehen", erzählt Piter, "aber wird sind durch diesen Schicksalsschlag zusammengerückt".
Hanau bleibt Heimat
Auch wenn für sie Hanau seit der Mordnacht nicht mehr dieselbe Stadt ist, bleibt es dennoch ihre Stadt, ihre Heimat.
"Ich bin hier aufgewachsen, ich bin hier auch geboren", sagt Etris Hashemi. "Ich kenne hier jeden. Wenn du hier einmal über die Straße läufst, begegnest du 20 Freunden."
Fotos von neun Toten hängen an der Wand der "Initiative 19. Februar". Die Tat eines Rassisten. Das Leben muss für die Angehörigen der Opfer weitergehen, hier in Hanau. Das gehe aber nur, wenn die vielen Unklarheiten und Missstände endlich aufgeklärt würden, sagen sie. Das öffentliche Interesse wird nach dem Jahrestag vermutlich abnehmen.