Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen Alles neu in NRW
In Nordrhein-Westfalen wurde nicht nur eine Landesregierung abgewählt, sondern das alte Lagerdenken. Egal ob Schwarz-Grün oder Ampel - die nächste Regierung in NRW wird ein Novum sein.
Und wieder ist eine Landesregierung in Nordrhein-Westfalen abgewählt worden. In den vergangenen 16 Jahren hat es nun vier Wechsel gegeben, immer ging es hin und her zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Grün.
Aber nun sind zum ersten Mal die alten Lager aufgebrochen. CDU mit FDP ist abgewählt, SPD und Grüne ohne Mehrheit. Rechnerisch möglich sind Schwarz-Grün oder die Ampel - beides ein Novum im bevölkerungsreichsten Bundesland. Oder wie es der Politikwissenschaftler Martin Florack formulierte: "Die alte Bonner Republik ist auch in Düsseldorf zu Ende gegangen."
Wahlgewinner Nummer 1: Hendrik Wüst
Nach der Landtagswahl in Schleswig-Holstein wurde spekuliert, ob es einen "Merz-Effekt" auf die Wahl gab. Nach der Wahl in NRW wird man wohl eher über einen "Wüst-Effekt" nachdenken müssen.
Befragt nach der Bundesebene antwortete Wüst am Wahlabend dezidiert mit dem Hinweis darauf, dass er "viel Unterstützung aus ganz Deutschland" erhalten habe, "entscheidende Themen waren landespolitische". Das könnte man auch sehr frei als Kampfansage an den Bundesvorsitzenden Friedrich Merz übersetzen, sich den Wüst-Wahlerfolg nicht zu eigen zu machen.
Wüst kannibalisiert Liberale im Merkel-Stil
Wie Wüst nach außen freundlich, in der Sache aber hart agierte, zeigt, dass er im Merkel-Stil in den vergangenen Wochen die Erfolge des Koalitionspartners FDP für sich reklamierte. Der abgewählte Vize-Ministerpräsident Joachim Stamp, der die Verantwortung für das schlechte Abschneiden übernahm, warf Wüst im Weiteren aber auch vor, sich "teilweise mit Federn unserer Erfolge geschmückt" zu haben. Als Beispiele nannte er die "Entfesselungspolitik" von Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) sowie die Talentschulen in NRW. "Man muss feststellen, dass unser Koalitionspartner nicht besonders viel Rücksicht genommen hat im Wahlkampf", so Stamp.
Der Blick auf die Wählerwanderung zeigt, dass Wüst damit erfolgreich war: Die größte Abwanderung mit 260.000 Stimmen ging von der FDP zur CDU.
Am Wahlabend findet Wüst außer pflichtschuldigem Dank kein Wort des Bedauerns über das schlechte Abschneiden des Koalitionspartners. Stattdessen flirtet er mit den Grünen und betont, es geht jetzt darum, "Klimaschutz und Industrieland zu versöhnen". Kann er sie für eine Regierung gewinnen? Und wie wird er mit ihnen umgehen?
Grüne haben alles richtig gemacht
Die Grünen in NRW haben mit ihrem Allzeithoch von mehr als 18 Prozent beste Voraussetzungen, in Verhandlungen sehr selbstbewusst aufzutreten. Gerne als "Umfrageweltmeister" verspottet, haben sie es diesmal geschafft, die guten Ergebnisse der Vorwahlumfragen nicht nur einzulösen, sondern sogar zu übertreffen.
Sie haben im Wahlkampf alles richtig gemacht: Völlig geräuschlos wurde lange vor der Wahl und für alle überraschend der Fraktionsvorsitz ausgewechselt. Mit Verena Schäffer und Josefine Paul übernahm die nächste Generation. Ebenso geräuschlos wurde die Co-Landesvorsitzende Mona Neubaur plötzlich als Spitzenkandidatin präsentiert. Und zwar nur als Spitzenkandidatin und nicht als Ministerpräsidentinnen-Kandidatin. Damit haben die Grünen ein realistisches Wahlziel angepeilt und konnten sich auf Sachthemen konzentrieren statt auf einen personenzentrierten Wahlkampf um Neubaur, die bislang keinerlei Regierungserfahrung hat.
Bemerkenswert war eine Vorwahlumfrage, bei der Neubaurs Bekanntheitswert niedriger war als der Vertrauenswert in ihre Person. Das geht nur, wenn hinter der Kandidatin eine starke Partei steht. Und die Sachthemen wie Klimaschutz und Mobilität passen zum Markenkern der Partei und ihrer Klientel.
Hinzu kommt: Die NRW-Grünen hatten nicht nur Rückenwind aus Berlin, sondern einen regelrechten Rückensturm. Annalena Baerbock und Robert Habeck führen seit Wochen das Ranking der beliebtesten Politikerinnen und Politiker an, weit vor Kanzler Olaf Scholz, Merz und Christian Lindner.
Die Beißhemmung von Kutschaty
Auch SPD-Spitzenkandidat Thomas Kutschaty setzte auf den Rückenwind aus Berlin, aber die Brise, die vom Willy-Brandt-Haus und aus dem Kanzleramt nach NRW wehte, war so unentschlossen wie das Scholz unterstellte Zaudern in der Ukraine-Politik. Mit den Großflächenplakaten, die Kutschaty und Scholz zeigten und im Endspurt eingesetzt wurden, hatte die NRW-SPD gehofft, dass mehr Glanz aus Berlin auf den Spitzenkandidaten abfärbt.
Die Wahlkampf-Strategie der Sozialdemokraten ist gescheitert. Sie bestand im Kern daraus, den Ministerpräsidenten nicht anzugreifen. Im TV-Duell, das von vielen als Duett, ja sogar als Sondierung für eine GroKo wahrgenommen wurde, ließ der Herausforderer die Chance verstreichen, sich als echte Alternative zum Amtsinhaber zu profilieren. Dabei zeigte er zuvor oft genug im Landtag, wie angriffslustig und bissig er sein kann.
Stamp im Schatten des großen Vorsitzenden
Auch der abgewählte Vize-Ministerpräsident, FDP-Spitzenkandidat Joachim Stamp, hätte sich gewiss über Unterstützung aus Berlin gefreut. Aber der die Partei dominierende Bundesvorsitzende Lindner macht nun als Finanzminister die Politik, die er zuvor rhetorisch geschickt aus der Opposition verteufelte. Und Bundesverkehrsminister Volker Wissing sorgte für Spott, weil er ein Tempolimit mit dem Hinweis ablehnte, es gebe nicht genügend Verkehrsschilder. Ein Tempolimit, das jüngst alle 16 Landesverkehrsminister forderten. Auch Wissings Food-Porn-Bashing wurde in den sozialen Medien verlacht.
Innerhalb des NRW-Landesverbands hat es Stamp nicht geschafft, aus dem Schatten seines Vorgängers Lindner herauszutreten. Was nicht nur Stamp zuzuschreiben ist. Symptomatisch war der letzte Landesparteitag der NRW-Liberalen vor der Wahl. Auf dieser virtuellen Veranstaltung redete ein aus Berlin zugeschalteter Lindner doppelt so lange wie der Spitzenkandidat Stamp.
NRW und seine Kanzlerkandidaten
Wer in NRW die Macht hat, der will sie auch im Bund - das ist die Erwartungshaltung, die seit Jahrzehnten in Düsseldorf herrscht. Obwohl bislang alle Ministerpräsidenten gescheitert sind, die aus NRW heraus das Kanzleramt erobern wollten: sowohl Armin Laschet (CDU) als auch vor ihm die Sozialdemokraten Peer Steinbrück und Johannes Rau. Als Hannelore Kraft (SPD) sagte, nie, nie, nie nach Berlin gehen zu wollen, höhnte die damalige Opposition aus CDU und FDP von der "Selbstverzwergung". Kraft habe damit ihre Macht auf die Bundespolitik unnötig beschnitten.
Das wird Wüst nicht passieren. Er wird sich alle Optionen offen halten - und damit zu einer harten Konkurrenz für den Sauerländer Merz werden. Beide bedienen das gleiche konservative Profil, wobei Wüst mit seinen 46 Jahren deutlich jünger ist und erfolgreich bei der wichtigen Wählerschaft der Über-60-Jährigen punkten konnte. Gerne zeigt sich Wüst Kinderwagen schiebend als junger Familienvater. Wohl niemand, der sich für Politik in NRW interessiert, kennt nicht den Kosenamen "Pippa" seiner 2021 geborenen Tochter, zu oft erwähnt er sie.
Auch wenn die nächste Bundestagswahl noch weit weg ist - denkbar ist, dass bei der Kanzlerkandidatur der Union der konservative Wüst und der eher links-liberale Ministerpräsident aus Schleswig-Holstein, Daniel Günther, in Konkurrenz treten. Beide können im Gegensatz zu Merz mit dem Pfund der Wiederwahl in einem wichtigen Regierungsamt wuchern. Und beide könnten sich damit empfehlen, für neue Koalitionen zu stehen: Günther für Jamaika und wenn Wüst erfolgreich mit den Grünen sondiert, könnte er sich mit Schwarz-Grün für den Bund empfehlen. Dass die Ampel im Bund nun durch das Wahlergebnis in NRW in Bedrängnis gerät - auch das stärkt Wüst. Mit ihm wird nicht nur in Düsseldorf zu rechnen sein.