Symbolbild: Eine Schülerin steht im Sexualkundeunterricht neben Anschauungsmaterial am 04.11.2011. (Quelle: picture alliance/dpa/Julian Stratenschulte)

Berlin Berliner Aidshilfe: "Fast jedes Kind hat schon von Aids gehört, kann es aber nicht zuordnen"

Stand: 01.12.2024 10:55 Uhr

HIV und Aids sind heute zwar meistens kein Todesurteil mehr, Schutz ist dennoch wichtig. Im Lehrplan der Schulen ist die Aufklärung von Jugendlichen noch immer verankert, wird für Annabelle Lüscher von der Berliner Aidshilfe zu selten betrieben.

rbb|24: Hallo, Frau Lüscher. In den 1980er Jahren galten HIV und Aids als eine Art Geißel der Menschheit, viele Menschen starben. In welcher Liga spielen sie heute?
 
Annabelle Lüscher: Tatsächlich war ich vor wenigen Wochen auf einer Veranstaltung im Auguste-Viktoria-Klinikum und da sagte eine Ärztin, sie hätte lieber HIV als eine Zuckerkrankheit. Denn die Medikamente seien so viel besser verträglich und viel wirksamer. HIV hat glücklicherweise nicht mehr die Bedeutung, die es in den 80er und 90er Jahren hatte. Wer behandelt wird, hat eine normale Lebenserwartung, das Virus wird auch auf andere Personen nicht mehr übertragen. Man kann also ein Leben ohne Einschränkungen führen.

Nochmal zur Erläuterung: erst hat man HIV und wenn das unbehandelt bleibt, kann Aids ausbrechen?
 
Genau. Das dauert aber. Das HI-Virus kommt in den Körper und über einen Zeitraum von sieben bis neun Jahren vermehrt sich das Virus und greift ständig das Immunsystem an. Wenn dieses überlastet ist und die T-Helferzellen dann gering sind, hat man das Endstadium – Aids – erreicht. Aber dazu muss es gar nicht kommen. Mit der Behandlung, die es seit 1995 gibt, kann man diesen Verlauf unterbrechen und eine Person kann gesund mit HIV leben und nie Aids bekommen. Auch wenn jemand schon im Endstadium angekommen ist – leider wird HIV nicht immer früh genug erkannt – können wir es noch zurücksetzen. Zwar sind dann gesundheitliche Schäden entstanden, aber der oder die Betroffene kann mit Einschränkungen das Leben weiterführen.

Für wen in Deutschland kann die Diagnose HIV oder Aids heute noch ein wirkliches Problem oder gar ein Todesurteil sein?
 
Die meisten Neuinfektionen entstehen jetzt durch intravenösen Drogenkonsum beziehungsweise durch Spritzentausch. Die Betroffenen sind teils obdachlos und haben noch verschiedene andere Schwierigkeiten. Sie werden nicht gut im System aufgefangen. Hier in Deutschland gibt es die antiretrovirale Therapie, die komplett von der Krankenkasse übernommen wird. Dafür muss man aber krankenversichert sein und Zugang zu einem Arzt haben. Das haben viele Obdachlose oder Menschen, die hier in Deutschland ohne Aufenthaltserlaubnis leben, nicht. Und das ist auch ein Grund dafür, dass HIV sich in Deutschland weiterverbreitet. Würden alle therapiert, könnte man die Zahl an Neuinfektionen auf Null setzen.

Diskriminierung von HIV-Infizierten war früher ein großes Thema. Passiert das auch heute noch?
 
Stigmatisierung macht das Leben für die Menschen mit HIV bis heute schwer. Da die Bilder aus den 80er und 90er Jahren unser gesellschaftliches Verständnis von HIV noch stark prägen, gibt es immer noch Ablehnung und Unverständnis.

Würden alle therapiert, könnte man die Zahl an Neuinfektionen auf Null setzen

In welchem Kontext findet diese Stigmatisierung statt?
 
Die Deutsche Aidshilfe hat vor ein paar Jahren eine Studie mit 5.000 Menschen, die mit HIV in Deutschland leben, durchgeführt. Gefragt wurde unter anderem, wo sich die Menschen ihn ihrem Alltag am meisten eingeschränkt fühlen. Heraus kam, dass das vor allem in Arztpraxen der Fall ist, weil dort Diskriminierung ausgeübt wird.
 
Zudem gibt es Zahlen die besagen, dass etwa 50 Prozent der Menschen keine Person mit HIV küssen würden. Obwohl HIV über das Küssen gar nicht übertragbar ist.

In den späten 80er und den 90er Jahren gab es viel Aufklärung an Schulen. Schulkinder lernten, dass sie sich mit Kondomen schützen sollten und es für ungeschützten Sex mit festem Partner Sinn macht, vorher einen HIV-Test zu machen. Findet dieser Wissenstransfer auch heute noch über die Schulen statt?
 
Das sollte so sein, denn es steht im Lehrplan. Also dass die Schulen über HIV aufklären sollten und jedes Kind lernt, wie man sich schützt. Ich frage im Rahmen meiner Tätigkeit fast immer nach, wenn ich einen Workshop mache, ob die Jugendlichen je etwas zu HIV in der Schule gehört haben. Da scheint es sehr von einzelnen Schulen abzuhängen, ob das vorkam. Kurzum: gesetzlich gesehen müssten die Schulen das machen, es passiert in der Regel aber nicht.

Einem Menschen wird Blut für einen HIV-Test abgenommen (Quelle: dpa/Klaus-Dietmar Gabbert).
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Wie ist der Stand der Jugendlichen da heute – schützen sie sich vielleicht vor allem mit Kondomen, um Schwangerschaften zu verhindern?
 
Die Jugendlichen wissen tatsächlich meist, wie eine Schwangerschaft entsteht und wie man sie vermeiden kann – das wird in den Schulen offenbar thematisiert. Aber ob mehr vorkommt, hängt sehr von der Motivation der Lehrkraft ab. Auch, ob sie zum Beispiel zu uns kommen, muss die Lehrkraft individuell vereinbaren. Wenn Lehrende überlastet sind und keine Zeit dafür haben, passiert auch das nicht.
 
Wir treffen hier bei uns viele 16 bis 17-Jährige, die zwar wissen, dass Kondome gut sind. Was es aber mit Geschlechtskrankheiten auf sich hat, wie man sich schützen kann, wie man sich testen und wie man darüber kommunizieren kann, ist ihnen zumeist nicht beigebracht worden.

Gibt es Zahlen, wie viele Kinder und Jugendliche sich heutzutage mit HIV infizieren?
 
Laut RKI sind nur etwa 200 Kinder unter 15 Jahren in Deutschland HIV positiv - von 97.000 Menschen insgesamt. Unter Therapie wird HIV der Mutter auch nicht​ auf das Kind übertragen. Nur wenn die Infektion nicht bekannt ist oder nicht behandelt wird, könnte HIV sich auf das Kind bei der Geburt oder durch Stillen übertragen. Aber was wir wissen ist, dass die Zahl der Infektionen mit Chlamydien und Syphilis zunimmt.

Auch bei den Jugendlichen?
 
Ja. Jede zweite Person unter 25 Jahren wird irgendwann einmal eine Chlamydien-Infektion haben. Diese Zahl ist über die letzten zehn Jahre ziemlich stabil geblieben.

Sie bieten auch "Vor-Ort-Präventionen", etwa auf dem Lollapalooza-Festival, an: Was sind da Ihre Erfahrungen?
 
Wir versuchen über Spiele oder Unterhaltungen locker mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Was wir beobachten ist, dass viele da zurückhaltend sind oder das Gefühl haben, sich rechtfertigen zu müssen. Sie sagen, sie benutzten sowieso immer Kondome, es gehe sie insgesamt nichts an, fänden es aber cool, dass wir da sind. Sie gehen lieber woanders hin und reden nicht mit uns. Die Hürde, über Sexualität und sexuelle Gesundheit zu reden, ist auch unter jungen Menschen hoch.
 
Wir versuchen uns dafür einzusetzen, dass das Themen sind, die alle etwas angehen und die nichts mit Moral zu tun haben. Aber die gesellschaftliche Stimmung bewegt sich hier ziemlich langsam.

Menschen schauen am 18.01.1990 ins Schaufenster von Berlins erstes AIDS Café das Café Posithiv in der Großgörschenstraße in Schöneberg. (Quelle: Picture Alliance/AP/Roland Weihrauch)
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Interessieren sich die jungen Menschen vielleicht einfach nicht mehr für das Thema HIV?
 
Manchmal wird sogar bei uns in der Aidshilfe behauptet, junge Menschen interessierten sich nicht mehr für HIV und Aids, weil es sie kaum noch betreffe. Ich kann dem aber nicht zustimmen. Ich merke, dass in fast jeder Klasse ein großes Interesse an dem Thema besteht. Denn fast jedes Kind hat schon von Aids gehört, kann es aber nicht zuordnen. Sie wissen nicht, warum die Eltern noch die schrecklichen Bilder in ihren Köpfen haben, sie fragen sich dann schon, ob sie sich doch Sorgen machen müssen oder das alles vorbei ist. Über die Aids-Krise in den 80ern und 90ern zu berichten ist sehr wichtig, denn sie gehört zu unserer Geschichte. Sie hat die Menschen, die zu der Zeit erwachsen waren, sehr stark geprägt. Da brauchen wir mehr Möglichkeiten, in den Dialog zu gehen – auch wenn Aids heutzutage kein Todesurteil mehr ist.
 
Vielen Dank für das Gespräch.
 
 
 
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24

Sendung: Radioeins, 29.11.2024, 09:10 Uhr