Berlin Interview: Belastungssteuerung im Profi-Sport ist ein Ritt auf der Rasierklinge
Im Fußball werden Stimmen laut, dass die Spielfrequenz zu hoch sei. Im Basketball und Eishockey sind drei Spiele in fünf Tagen keine Seltenheit. Sind Fußballer "verweichlicht"? Sportwissenschaftler Dr. Jörg Jacobs über gravierende Unterschiede.
rbb|24: In den letzten Monaten äußerten sich Fußballprofis und Trainer vermehrt zu der enorm hohen Belastung von Spielern aufgrund der vollen Terminkalender, der vielen Reisen, und vor allem wenig Regeneration. Verstehen Sie die Kritik? Wie schätzen Sie die Situation ein?
Dr. Jörg Jacobs: Das ist natürlich ein zweischneidiges Schwert, weil diese Zunahme der Spiele am Ende des Tages auch mit Kommerzialisierung zu tun hat. Es geht um die Erschließung neuer Märkte und Ausweitung der Formate. Damit geht erstmal eine Steigerung der absoluten Anzahl von Spielen einher. Im Männer-Fußball könnte man jetzt argumentieren, es gibt ja genug Spieler in den jeweiligen Kadern, sodass man rotieren und das Ganze entsprechend verteilen könnte.
In der Praxis sieht es natürlich anders aus. Wenn du erfolgreich sein willst, bist du auf deine besten Spieler angewiesen. Und es gibt natürlich zahlreiche Topstars, die dann auch noch mit ihren Nationalmannschaften erfolgreich sind. Da kommen manche Spieler dann auf 65 bis 70 Spiele im Jahr. Da ist die Diskussion dann schon nachzuvollziehen mit den entsprechenden Reisen. Insbesondere bei der Belastungsstruktur, wie sie im Fußball halt einfach besteht.
Stichwort Belastungsstruktur. Alba Berlin und die Eisbären Berlin spielen teilweise drei Spiele in fünf Tagen. Was sind die Unterschiede bei der Belastung in den unterschiedlichen Sportarten?
Es gibt Belastung und Beanspruchung. Das sind zwei unterschiedliche Themen. Belastung ist das, was objektiv zu leisten ist, also zum Beispiel Laufstrecken, die absolviert werden. Und Beanspruchung ist das, was dann als Reaktion im jeweiligen Organismus passiert. Da unterscheiden sich natürlich die Belastungsstrukturen der einzelnen Sportarten. Ein entscheidender Faktor ist die Tatsache, dass Fußball ein Low-Scoring-Sport ist. Das heißt, ein Tor kann ein Spiel entscheiden. Jede Aktion hat eine sehr hohe Relevanz. Ein verlorener Zweikampf, einmal über den Ball treten oder umgekehrt auch eine besonders gelungene Aktion kann ein Spiel entscheiden. Das unterscheidet den Fußball ganz deutlich vom Basketball, weil Spielzeiten ganz anders verteilt sind. Im Basketball kann man Star-Spieler auch innerhalb eines Spiels schonen.
Also ist es in anderen Sportarten einfacher, individuell auf die Belastung der Spieler einzugehen?
Ja, die Belastungssteuerung ist deutlich einfacher. Dazu kommt auch noch die Möglichkeit, beliebig zu wechseln. Ich kann den einen Star-Spieler im Basketball einwechseln und wieder auswechseln. Läuft das Spiel gut, dann lasse ich ihn ganz draußen. Im Fußball geht das nicht.
Die Balance zwischen Belastung und Erholung zu finden und dadurch maximale Leistungsfähigkeit zu erreichen – ist das im Fußball unter den Voraussetzungen, die ein Champions-League-Teilnehmer hat, überhaupt noch möglich?
Die Athleten, die sich bis in diese Weltspitze vorarbeiten, scheinen eine sehr hohe Verträglichkeit zu haben. Sonst würden sie da gar nicht erst hinkommen. Eine ganze Reihe von Spielern macht über einen langen Zeitraum viele Spiele pro Saison, bleibt dabei unverletzt und leistungsfähig. Das heißt, da gibt es natürlich hervorragende individuelle Voraussetzungen. Aber wir haben natürlich auch Verletzungen von Spielern, die relativ schwerwiegend sind und in Phasen von einer hohen Spielfrequenz passieren, bzw. nach Phasen ohne ausreichende Regeneration. Stichwort internationale Wettbewerbe im Anschluss an oder zwischen nationalen Spielzeiten.
Marco Rose, Trainer von RB Leipzig, hat erst gestern erklärt, dass einer seiner Spieler aufgrund einer "zu riskanten Belastungssteuerung" nach einer Verletzung jetzt erneut ausfällt. Andere Spieler müssen spielen, obwohl sie nicht 100 Prozent fit sind. Was sagen Sie dazu?
Das ist ein repräsentatives Beispiel. Marco Rose sagt: Ich brauche den Spieler, um meine Ziele zu erreichen. Wir bewegen uns da auf der Rasierklinge, das wissen wir und hoffen, dass es gut geht.
Was könnte ein Weg sein, um diesem Teufelskreis aus vielen Spielen und Verletzungen entgegenzuwirken? Sind größere Kader die Lösung?
Nein. Größere Kader fallen dann qualitätsmäßig nach hinten ab. Dann kommen die Spieler nicht auf genug Spielzeiten. Man hätte dann andere Probleme. Es muss eine gesunde Kaderstruktur gegeben sein. Der permanente Ergebnisdruck zwingt Vereine dazu, weniger Rücksicht auf Belastungssteuerung nehmen zu können. Da kann man kaum eine Mannschaft von ausschließen. Das ist im Fußball eine andere Situation als im Basketball. Da spielen fünf Spieler bei mehr als 10 Spielern im Spieltagskader und der Möglichkeit, die Spielzeiten beliebig zu verteilen. Oder die absoluten Eiszeiten im Eishockey. Das sind ganz andere Einflussmöglichkeiten.
Was könnte denn dann eine Lösung im Fußball sein? Ist es dann wirklich eine Obergrenze an Spielen, wie Bayern-Trainer Vincent Kompany neulich gefordert hat?
Das ist nicht realistisch, weil solange die einzelnen Akteure nicht an einem Strang ziehen, wird es da keine Lösung geben und das ist natürlich teilweise gegenläufig. Es geht mit Sicherheit um Gewinnmaximierung und am Ende des Tages nehmen das natürlich alle mit. Man bräuchte ein gemeinschaftliches Handeln. Die Top-Klubs müssten gemeinschaftlich handeln, die Verbände müssten gemeinschaftlich handeln, die Spieler müssten gemeinschaftlich handeln, wenn sie sagen, wir machen das nicht. Und diese Gemeinschaftlichkeit zu erzeugen, ist doch sehr unrealistisch.
Die Gesamtentwicklung geht also schon in die Richtung: Weniger Rücksicht auf die Gesundheit der Spieler, oder?
Ja, wenn man unterstellt, dass erhöhte Verletzungsinzidenzen in Kauf genommen werden. Dann ist das mit Sicherheit sehr fragwürdig. Weil rein theoretisch könnte man die Spielzeiten ja verteilen. Aber im Sinne von Erfolgsdruck ist das unrealistisch. Dadurch, dass jeder Wettbewerb eine eigene spezifische Relevanz hat, glaube ich nicht, dass da Abstufungen gemacht werden.
Eisbären-Spieler Leo Pföderl gegen Düsseldorf
Eisbären-Spieler Leonhard Pföderl sagte erst vor Kurzem, dass ihm die Spiele momentan nicht mehr wirklich Spaß machen. Also die Spieler - in welcher Sportart auch immer – leiden darunter.
Unabhängig von der Leistung ist der mentale Aspekt total wichtig. Es gibt so etwas wie chronische Ermüdung im Sport im mentalen Bereich. Wie schaffen Sportler es, sich immer wieder neu zu motivieren? Und vielleicht schaffen sie es auch nicht. Dann kommt es zu einer mentalen Übermüdung. Von daher kann ich die Aussage von Pföderl sehr gut verstehen.
Sie haben sich auch viel mit jungen Spielern, mit dem sportlichen Nachwuchs beschäftigt. Könnte das sogar ein Punkt für junge Sportler sein, der gegen die Profi-Karriere spricht?
Ich glaube nicht, dass das in der Gedankenwelt von Nachwuchsspielern als negativ wahrgenommen wird. Überhaupt nicht. Der Wunsch, überhaupt erstmal dazuzugehören, überdeckt alles.
Könnte das Niveau der einzelnen Sportarten unter der hohen Belastung leiden? Oder sind die weiteren Aspekte so weit fortgeschritten, dass es trotzdem weiter bergauf geht?
Es scheint immer weiter bergauf zu gehen. Die Anpassungsvorgänge werden optimiert. Wenn Star-Spieler verletzungsbedingt fehlen, dann wirkt sich das natürlich aus. Aber ich kann nicht feststellen, dass es einen allgemeinen Qualitätsabfall gibt.
Im Sommer war es der Spieler Rodri von Manchester City, der die Diskussion nochmal angefacht hat. Er hat tatsächlich auch das Wort Streik in den Mund genommen. Halten Sie das für realistisch?
Nein, weil ich nicht glaube, dass es da zu einem gemeinschaftlich abgestimmten Handeln kommen kann. Weil das nächste Spiel für Fußballspieler immer im Vordergrund stehen wird. Wer soll es organisieren? Wie sicher kann so eine Gruppierung sein? Es müssten auch Konsequenzen folgen, um etwas zu erreichen. Und das kann ich mir nicht vorstellen. Konsequenterweise müsste man dann auch am Ende auf Geld verzichten.
Abschließend: Stimmt die Grundthese, dass Fußballer "verweichlicht" sind nun oder hinkt der Vergleich?
Losgelöst von der Thematik Spielkalender kann der Fußballer sich die Frage stellen, ob er in allen Bereichen schon so weit ist wie andere Sportarten. Zum Beispiel beim Thema sportpsychologische Betreuung. Und einer Art Selfcare-Ansatz. Sprich, ich bin für mich selbst verantwortlich, für meine Leistungen und tue dafür einiges. Und vor allem nicht nur nach Anweisung. Die nachrückenden Spielergeneration gehen da bereits offener mit um. Ich denke, der Fußball hat noch Potenziale, aber die sind losgelöst von dieser Spielfrequenz. Die wird vielleicht sogar eher dazu führen, dass man noch professioneller in verschiedenen Bereichen agiert. Themen wie Ernährung und Schlafmanagement. Verweichlicht ist für mich da der falsche Begriff.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Antonia Hennigs, rbb Sport.